Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
nicht darüber reden, ich kann nicht.«
Arme Tori. Selbst mit hasserfülltem Gesicht ist sie noch wunderschön. Schon bei ihrer Mutter ist ihr diese Schönheit zum Verhängnis geworden, und nun hat sie ihr erneut ein Leid beschert, über das sie nicht reden kann und das ich mir nicht einmal vorzustellen vermag. Ich strecke ihr die Hand hin und sie ergreift sie. Hält sie fest.
»Eines Tages habe ich es einfach drauf ankommen lassen. Ich habe mich nicht mehr gewehrt und mich zum Schein auf alles eingelassen. Dann, als er … abgelenkt war, habe ich ihn getötet.«
Tori lässt meine Hand los, nimmt sich ein Wurfmesser und fährt mit dem Finger sanft über die Klinge. »So scharf wie dieses war es nicht. Ein Tafelmesser. War eine ziemliche Schweinerei und hat lang gedauert. Er hat ordentlich gelitten und das hat mich gefreut.«
Dann sieht sie mich an. »Anschließend bin ich weggelaufen, doch ich hätte nicht gedacht, dass ich weit komme. Es war mir auch egal, denn ich wollte mich ohnehin umbringen, besser ich als die Lorder. Den Triumph habe ich ihnen nicht gegönnt, kannst du das verstehen? Doch da wurde mir klar, dass ich Ben noch einmal sehen wollte, bevor ich sterbe.« Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
In mir krampft sich alles zusammen. Wenn sie erfährt, dass ich mit Bens Verschwinden zu tun habe, bleibt das Messer nicht in ihrer Hand.
Ihre Knöchel treten weiß hervor, so fest umklammert sie den Griff. »Ich wollte dir das alles gar nicht sagen. Weißt du, warum ich es trotzdem tue?«
Mein Mund ist trocken. Ich bin auf dem Sprung, bereit, mich notfalls zu verteidigen. »Warum?«
»Weil Nico mich darum gebeten hat.«
Ich entspanne mich ein wenig. Hat er mich deshalb hergebracht? Was steckt dahinter?
»Ihm musste ich es sagen. Er hat darauf bestanden, sonst hätte ich nicht bleiben dürfen. Manche Dinge wollte ich nie laut aussprechen, aber er hat mich dazu gebracht.«
»Das kann er gut«, sage ich.
Tori nickt und der Gedanke an Nico entlockt ihr ein flüchtiges Lächeln. Mir versetzt das einen Stich.
Dann ist das Lächeln wieder verschwunden. »Dafür hat Nico mir von Ben erzählt, von seinem Levo und den Lordern. Ich bin zu spät gekommen. Wahrscheinlich liegt er inzwischen in irgendeiner Grube wie die anderen Slater.«
Mit angezogenen Beinen, die Arme fest um die Knie geschlungen, sitzt sie da. Ihr Kopf sinkt nach vorn und sie schluchzt ganz fürchterlich. Ich lege den Arm um sie. Eigentlich sollte ich ihr sagen, dass Ben gesehen wurde. Warum schweige ich? Weil ich nicht sicher bin, dass es Ben ist? Um Aiden zu schützen? Oder habe ich dunklere Beweggründe? Keine Ahnung.
Tori hebt den Kopf und wischt sich die Tränen mit dem Ärmel weg. Sie lächelt mich an.
»Aber jetzt gehöre ich zu Free UK und bringe weitere Lorder um. Deshalb gefällt es mir hier auch.« Sie springt auf. »Komm. Ich muss weiter üben.«
Und das tut sie auch. Sie hat ein gutes Auge und das will Lorderblut sehen.
Tori hält die Pistole mit beiden Händen. Sie zielt sorgfältig und drückt ab.
Als die Flasche explodiert, werden ihre Arme vom Rückstoß nach hinten gerissen.
Triumphierend hebt sie die Faust. »Endlich!« Sie ist eine wilde Schützin, kein Naturtalent wie mit den Messern. Hinter uns liegt eine lange, frustrierende und bisweilen auch gefährliche Übungseinheit. Wir lachen, und als wir uns umdrehen, steht Nico hinter uns.
»Bravo«, sagt er und Tori errötet vor Freude. Verärgert frage ich mich, ob er auch die Dutzend Fehlschüsse davor gesehen hat.
Nico wirft mir den Schülerausweis zu.
»Ist alles klargegangen?«, frage ich und hänge ihn mir wieder um.
»Natürlich. Du bist ordnungsgemäß zu allen Stunden erschienen, jedenfalls wird der Schulcomputer das steif und fest behaupten. Komm jetzt«, sagt er zu mir und geht ins Haus.
Ich folge ihm. Im Inneren ist ein provisorisches Schlafquartier errichtet, auf dem Boden liegen Schlafsäcke. Kartons, Kisten. Waffen? Fließend Wasser scheint es nicht zu geben. Damit hatte Tori sicher ein Problem. Kein Wunder, dass Katran sie »Prinzessin« genannt hat. Aber nach dem, was Tori durchgemacht hat, muss es hier das Paradies sein.
»Setz dich.« Nico deutet auf eine Kiste und setzt sich auf die daneben. »Wir müssen reden. Hat Tori dir ihre Geschichte erzählt?«
»Ja.«
»Aber weißt du auch, warum ich sie darum gebeten habe? Die Gruppe funktioniert nur, wenn wir keine Geheimnisse voreinander haben. Tori sollte dir alles erzählen, damit du ihre Stärken
Weitere Kostenlose Bücher