Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Bescheid.
Niemand beobachtet mich, also klopfe ich einmal an seine Bürotür. Er zieht mich hinein und schließt sie wieder.
»Rain! Wie geht es dir?« Er grinst mich an.
»Ähm, gut.«
»Ich habe eine Überraschung für dich. Nun schau doch nicht so erschrocken! Es wird dir gefallen«, sagt er, und obwohl mich seine Augen ruhig anblicken, bin ich alarmiert.
»Was ist es denn?«
Er schüttelt den Kopf. »Nicht so voreilig. Erst einmal machen wir heute Nachmittag einen kleinen Ausflug.«
»Wohin denn?«
»Wart’s einfach ab, Rain. Hab Geduld.« Und dann erklärt er mir, wo er mich heute Mittag abholen wird.
»Und was ist mit meinem Nachmittagsunterricht?«
»Gib mir nachher einfach deinen Ausweis, dann kümmere ich mich darum. Niemand wird etwas mitbekommen.«
Als es zur Mittagspause klingelt, verschwinde ich durch den Seitenausgang und haste die Straße hinunter. Dabei frage ich mich, warum ich das überhaupt tue. Wenn Nico von Coulson weiß, ist es gefährlich. Und wenn nicht, dann sollte ich es ihm sagen. So oder so bekomme ich Schwierigkeiten. Immer wieder überlege ich, ob ich umkehren soll, doch meine Füße tragen mich zum Treffpunkt. Aus irgendeinem Grund gelingt es mir nicht, mich Nico zu widersetzen.
Kaum habe ich die Biegung erreicht, die Nico mir beschrieben hat, taucht auch bereits sein Auto auf und hält neben mir. Die Beifahrertür geht auf. Ich steige ein.
Schon bald haben wir die Hauptstraße hinter uns gelassen und schlängeln uns auf verwilderten und unbekannten Pfaden vorwärts. Nico schweigt. Meine Kehle ist wie zugeschnürt. Vielleicht will er mich nur an einen entlegenen Ort bringen, um mich zu beseitigen.
»Wir sind fast da«, sagt Nico, doch ich sehe bloß Bäume und noch mehr Bäume. Als der Weg so schmal wird, dass der Wagen kaum noch hindurchpasst, hält er an. Weit und breit ist nichts. Nico zeigt ins Unterholz, wo ein kaum sichtbarer Pfad vorbeiführt. »Nach einem etwa zehnminütigen Spaziergang wirst du wissen, warum ich dich hergebracht habe. Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach.«
Nico schnappt sich meinen Schülerausweis, der um meinen Hals baumelt, und ich spüre seine warme Hand. »Geh, aber sei vorsichtig«, sagt er.
Nachdem ich ausgestiegen bin, fährt er rückwärts davon, und je weiter er sich entfernt, desto freier kann ich atmen.
Unschlüssig sehe ich mich um, aber was bleibt mir schon übrig?
Im Schutz der Bäume laufe ich neben dem Pfad entlang. Leise und behutsam, denn ich habe keinen Schimmer, was mich erwartet. Ich muss mich konzentrieren, um den Weg nicht aus den Augen zu verlieren.
Damals haben wir mit Nico alle möglichen Übungen im Wald absolviert, wie man geräuschlos durchs Unterholz schleicht, wie man einem Pfad folgt und ihn unbemerkt markiert. Dieser Weg hier ist allerdings undeutlich gekennzeichnet, in unregelmäßigen Abständen sind die Pflanzen umgebogen. Immer wieder muss ich zurückgehen, weil ich vom Weg abgekommen bin.
Ich bin aus der Übung.
Und gerade frage ich mich, ob ich nicht doch in eine von Nicos Fallen tappe. Sei vorsichtig, hat er gesagt. Wie hat er das gemeint? Früher hat er uns immer auf die Probe gestellt, uns überraschenden Gefahren ausgesetzt. Will er wissen, ob ich es noch draufhabe?
Nachdem ich knapp zehn Minuten gelaufen bin, fange ich an, die Wegstrecke Abschnitt für Abschnitt zweimal zu durchkämmen. Auf leisen Sohlen versuche ich, auf alles zu achten.
Bei einem dieser Umwege entdecke ich auch die kleine Lichtung. Im Schutz ausladender Bäume ist etwas Sperriges unter Ästen und einer grünen Abdeckplane verborgen. Und gegenüber davon wartet jemand auf einem Baumstumpf, genau dort, wo ich aus dem Wald hätte herauskommen sollen. Er sieht auf die Uhr. Fragt er sich, wo ich bleibe?
Ich blinzle ein paar Mal. Irgendetwas stimmt mit meinen Augen nicht. Als wäre ich hellwach und würde gleichzeitig tief und fest schlafen; verloren in einem Traum oder … einem Albtraum. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und ich bekomme eine Gänsehaut. Der Hinterkopf kommt mir bekannt vor, sehr bekannt. Das dunkle Haar ist mittlerweile lang, die Schultern breiter. Mein Herz klopft bis zum Hals. Ich frage mich gleichzeitig, ob er das wirklich ist und wer er eigentlich ist? Zaghaft mache ich einen Schritt, ohne auf den Weg zu achten. Ein Ast knackt.
Bei dem Geräusch fährt er herum. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er mich an, ein, zwei Sekunden lang spiegeln sich die Gefühle auf seinem Gesicht. Doch ehe
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