Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Blut. Auf den Tod. Den Geruch, den Geschmack, die Konsistenz. Ich muss würgen, gehe einige Schritte zurück, kann aber den Blick nicht losreißen. Blut tropft von seinem Arm. Die Tropfen scheinen minutenlang in der Luft zu verharren, bevor sie auf den Boden fallen. Krampfhaft zieht sich mein Magen zusammen. Ich hole tief Luft und bücke mich. Mir ist schwindelig, aber ich will mich nicht übergeben.
Als Katran die Hand nach mir ausstreckt, zucke ich zurück. Seufzend holt er ein Taschentuch hervor, wischt sich das Blut vom Arm und drückt es auf den Schnitt.
»Das ist doch nur ein kleiner Kratzer. Mir geht es bestens. Siehst du?« Als ich mich zu ihm umdrehe, ist kein Blut mehr zu erkennen und ich bekomme wieder Luft.
»Verstehst du jetzt, warum du nicht zu uns gehören kannst?«, raunt er. »Du bist ein Risiko für uns alle. Wenn du nicht mal ein paar Tropfen Blut sehen kannst, was meinst du, was erst passiert, wenn Schüsse und Bomben fallen? Du könntest jederzeit zusammenklappen. Und wenn ich immer auf dich aufpassen muss, geraten andere in Gefahr.«
»Ich kapier es einfach nicht. An Anschläge und Blut kann ich mich doch erinnern.« Ich schlucke und richte die Aufmerksamkeit auf die inneren Bilder. Lärm. Geschrei. Fliehende Menschen. Aber die Einzelheiten sind verschwommen. Ich weiß nicht mehr, welche Rolle ich dabei gespielt habe. Verdränge ich nur, dass auch ich Menschen auf dem Gewissen habe? Das kann doch nicht sein. Könnte ich wirklich jemanden umbringen? Habe ich das schon?
»Was führt Nico nur im Schilde?«, sagt Katran mehr zu sich selbst. »Er muss eigentlich wissen, dass das nie und nimmer funktioniert. Warum will er dich unbedingt dabeihaben?«
Und als würde ihm jetzt erst einfallen, dass ich ja auch noch da bin, dreht er sich zu mir um und nimmt meine Hände in seine. »Versprich mir eins, Rain. Lass es dir durch den Kopf gehen. Denk daran, was heute geschehen ist, was immer geschieht, sobald du Blut siehst. Vergiss das nicht.« Er hält inne, fixiert mich. Und ich kann diesem unerschütterlichen Blick nicht ausweichen, so gerne ich es auch möchte.
Gedankenlos streiche ich ihm über die Wange, fahre mit den Fingern über seine Narbe. Das habe ich schon häufiger getan, stelle ich verwundert fest.
Katran reißt sich von mir los, als würde meine Berührung ihm die Haut versengen. Er springt auf das Motorrad und ich folge ihm. Auf dem Nachhauseweg überschlagen sich meine Gedanken. Hat Katran recht? Bin ich eine totale Niete als Terroristin?
In mir wehrt sich alles dagegen. Nein, darin bin ich gut. Ich bin in allem gut, was Nico uns beigebracht hat. Und ich habe mich immer angestrengt, die Beste zu sein – und oft war ich das auch.
Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn es stimmt, was Katran sagt, warum will mich Nico denn dabeihaben? Es war sicher kein Kinderspiel, mich ausfindig zu machen. Und überhaupt frage ich mich schon die ganze Zeit, wie er das geschafft hat. Wenn Aidens Kollege sein Spitzel bei MIA ist, würde das natürlich einiges erklären. Und der hat ihm dann auch von meinem Besuch bei Ben erzählt. Mein Gedächtnis lässt mich vielleicht manchmal im Stich, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Katran lügt nie. Wenn er es gewesen wäre, hätte er es gestanden.
Warum hat sich Nico solche Mühe gegeben, mich wiederzufinden, wenn ich im Kampf nicht zu gebrauchen bin? Dass ich ausgerechnet zu Mum, der Tochter des ermordeten Premierministers, komme, hatte er doch nicht im Voraus wissen können. Und dass Dr. Lysander meine Ärztin wird, konnte er auch nicht ahnen.
Ich beiße die Zähne zusammen. Also gut, Blut ist echt widerlich, aber den Ekel überwinde ich schon mit meiner Willenskraft. Wenn Nico an mich glaubt, schaffe ich das.
Ich muss.
Und Dr. Lysander an Free UK auszuliefern, ist doch sicher auch etwas wert. Sogar ziemlich viel.
Spät in der Nacht versuche ich es dann. Mit einem scharfen Küchenmesser will ich nur einen Tropfen Blut. Aber ich bringe es nicht über mich. Frustriert schleudere ich das Messer quer durchs Zimmer, wo es in der Tür stecken bleibt.
»Kyla! Warte«, ruft Cam hinter mir her, schlechter hätte sein Timing nicht sein können.
Kurz überlege ich, ob ich mich taub stellen soll, aber dann läuft er mir womöglich noch hinterher. Ich mache auf dem Absatz kehrt. »Ja?«
»Gehst du zum Unterricht?«
»Natürlich.«
»Aber das ist doch die falsche Richtung.«
Schüler strömen an uns vorbei, alle auf dem Weg zur ersten Stunde an diesem
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