Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)

mir vorstellen, wie er einen langen Bericht über mich verfasst, der dann postwendend an Coulson geht. Aber nach dem heutigen Tag wird das wohl kaum noch eine Rolle spielen!
    Mit der Zeit werden wir etwas schneller. Ich treibe Jericho mit den Schenkeln an, um den Abstand zum Lorder zu vergrößern, bevor ich Katran rufen werde.
    Dr. Lysander sieht mich von der Seite an. »Die verschwundene Krankenhausakte von deinem Freund Ben ist kein Einzelfall«, sagt sie leise. »Ich habe ein bisschen recherchiert und bin auf weitere Fälle gestoßen. Lücken in Krankenberichten. Und Schlimmeres.«
    »Was denn?«
    »Auch Ärzte sind verschwunden.« Auf ihrem Gesicht spiegelt sich das Entsetzen.
    Das war ja klar! Für sie zählt ein verschwundener Arzt mehr als hundert Slater.
    »Was heißt das?«, frage ich. Könnten sich die verschwundenen Ärzte vielleicht auf Bens Internat aufhalten?
    Sie will nicht so recht mit der Sprache herausrücken. »Im Moment kann ich nur Spekulationen anstellen und die sind alle sehr unerfreulich.«
    Ich erwidere ihren Blick und stelle ihr endlich die Frage, die mich schon eine ganze Weile umtreibt: »Warum erzählen Sie mir das alles? Warum melden Sie mich nicht, wenn Sie doch längst ahnen, dass ich mich erinnern kann? Warum treffen Sie sich hier mit mir? Ich verstehe es nicht.«
    »Einerseits, weil ich neugierig bin. Und weil ich wissen will, was bei dir schiefgelaufen ist, damit es nicht wieder vorkommt.«
    »Und?«
    Kopfschüttelnd gibt sie nach. »Reine Sentimentalität. Du erinnerst mich an eine Schulfreundin, aber das ist schon lange her«, sagt sie traurig.
    »Was ist mit ihr passiert?«
    »Sie war in die Aufstände verwickelt. Damals gab es keine Alternativen, sie wurde exekutiert.« Dr. Lysander schaut sich um. »Genug mit deinen Fragen und der Vergangenheit. Er kann uns nun wirklich nicht mehr hören. Jetzt bist du an der Reihe. Du hast versprochen, mir alles zu erzählen. An was erinnerst du dich? Warum erinnerst du dich?«
    Natürlich könnte ich einfach das Kom drücken und Katran rufen, um das Gespräch zu beenden. Doch … ihre Augen. Voller Neugier. Wenigstens kann ich ihr doch den einen Gefallen tun und ihre Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Vielleicht versteht sie Dinge, die mir bislang schleierhaft geblieben sind. Oder bin ich so gepolt, dass ich auf ihre Fragen antworten muss und mich nicht einfach verweigern kann? Nico würde ausflippen, aber er hört uns ja nicht.
    »Ich erinnere mich an seltsame Dinge – Eindrücke, Geräusche, Gefühle. Menschen und Orte, manchmal nur schemenhaft. Es ist schwer zu erklären. Wie gerade eben, als ich aufs Pferd gestiegen bin. Auf einmal wurden Gedanken und Empfindungen aus einer anderen Zeit wach, aber ich weiß nicht, von wann oder wo.«
    »Faszinierend«, sagt sie. »Alle Scans und Tests, die wir vor deiner Entlassung im Krankenhaus gemacht haben, haben nichts Ungewöhnliches ergeben.«
    »Da hat es noch nicht richtig angefangen. Außer mit den Träumen vielleicht. Aber nach dem Krankenhaus kamen die Erinnerungen zurück. Stück für Stück, anfangs nur Kleinigkeiten.«
    »Und dann?«
    Ich zögere. Dann kam Wayne. »Ich habe mich heftig mit jemandem gestritten. Und auf einmal ist alles auf mich eingestürmt. Und das hier«, ich zeige auf mein Levo, »ist vollkommen nutzlos.« Um es zu beweisen, lasse ich es um mein Handgelenk schwingen.
    »Das verstehe ich nicht, das ist doch unmöglich!«
    »Ganz verstehe ich es auch nicht, aber ein paar Dinge habe ich mir zusammengereimt. Ich bin als Linkshänderin geboren, nicht als Rechtshänderin. Free UK hat mich geschult, mich konditioniert. Genaues weiß ich nicht. Jedenfalls haben sie zwei Personen aus mir gemacht, die Erinnerungen aufgeteilt in eine Rechtshänderin und eine Linkshänderin. Als ich geslatet wurde, dachte man, ich wäre Rechtshänderin, weil ich gerade die Person war. Die andere Person hat sich dahinter versteckt.«
    »Interessant. Extreme äußere Umstände können zu einer multiplen Persönlichkeitsstörung führen. Im Prinzip wird das Ich dabei in Teilidentitäten gesplittet«, sagt sie gedankenverloren. »Theoretisch wäre es natürlich möglich, eine solche Spaltung mit Absicht herbeizuführen, sodass die eine Persönlichkeit die Erinnerungen der anderen bewahrt. Aber dazu müsste man schon extreme Methoden anwenden, den Menschen misshandeln oder so schwer traumatisieren, dass ihm als Überlebensstrategie nichts anderes übrig bleibt, als die Persönlichkeit zu