Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Dienstagmorgen. Noch geben sie mir Deckung.
Ich reiße mich zusammen, lächle. »Ich muss vorher noch ein Projekt für Kunst abgeben«, sage ich schnell. Kunst belegt Cam nämlich nicht. »Wir sehen uns nachher«, lüge ich und laufe eilig weiter, doch so leicht lässt er sich nicht abschütteln. Insgeheim fluche ich.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt er.
»Alles okay«, sage ich lächelnd. »Und bei dir?«
Er zuckt die Achseln. Sein Gesicht ist mittlerweile abgeschwollen, die lila Blutergüsse sind jetzt blassbraun, aber es wird noch eine Zeit lang dauern, bis sie ganz verschwunden sind. Weil er sich für mich eingesetzt hat, hat er Schläge kassiert. Mir wird ganz warm. Armer Cam. Ob die Lorder ihm Ärger machen, sobald sie merken, dass ich mich nicht an den Deal gehalten habe? Ich sollte ihn warnen.
Jetzt nicht, keine Zeit.
Ich bleibe stehen. Schenke ihm ein Lächeln. »Tut mir leid, aber ich muss mich echt beeilen, sonst schaffe ich es nicht mehr zum Unterricht. Bis nachher, okay?«
»Okay«, sagt er.
Ich stürze davon und eile über den Rasen direkt zum Kunsttrakt, falls Cam mich beobachtet. Aber warum sollte er? Trotzdem bleibe ich auf dem Weg, bis ich vor der Tür ankomme, dann verschwinde ich hinter dem Gebäude. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig durch den Seitenausgang, um einem Pulk von Landwirtschaftsschülern hinterherzulaufen, die auf dem Weg zu den Lerngärten sind. Für andere muss es wirken, als wollte ich meine Klasse einholen. Aber sobald wir nicht mehr in Sichtweite der Schule sind, lasse ich mich zurückfallen und schlage blitzschnell den Weg zur Straße ein.
Eigentlich sollte ich mich beeilen, aber meine Füße werden immer schwerer. Heute will sie mit mir reden, hinter meine Geheimnisse kommen. Bald schon wird ihr das größte Geheimnis von allen offenbart.
Mir ist übel. Sind es die Nerven?
Oder Schuldgefühle?
Nein! Sie unterstützt die Lorder und ihr System, das Slating und was sonst noch dazugehört. Emily. Ben. Sie darf mir nicht leidtun. Auf keinen Fall.
Das wird sie auch nicht. Ich muss es allen beweisen: Katran, Nico, Tori und den anderen. Beweisen, dass ich sie im Kampf gegen die Lorder unterstütze. Es ist auch mein Kampf.
Tiefe Schlammfurchen durchziehen den Reitweg, sodass ich nur mühsam vorankomme. Sie wartet schon, und ich sehe sie, bevor sie mich entdeckt. Ihr Pferd ist wunderschön, und daneben steht noch eines, auf dem der Lorder sitzt, der sie auch im Krankenhaus bewacht.
Ich stöhne auf. Nico hat mich schon darauf vorbereitet, dass sie womöglich jemanden bei sich haben wird. Mein Job ist es, die beiden zu trennen und den anderen dann ein Zeichen zu geben.
Winkend laufe ich ihnen entgegen. Der Lorder starrt mich ungläubig an, als er mich erblickt. Hat er nicht mit mir gerechnet? Gut. Dr. Lysander redet auf ihn ein und er scheint ihr zunächst zu widersprechen, nickt dann aber. Als ich bei ihnen bin, steigt er vom Pferd.
»Herrlicher Tag heute«, sagt sie lächelnd. Sie sieht so anders aus, ihr dunkles Haar fällt offen über den Rücken, vereinzelt sind graue Strähnen auszumachen. Bislang kannte ich sie nur im weißen Kittel, doch in den Reitklamotten sieht sie mehr aus wie sie selbst. Auch die dicken Brillengläser sind verschwunden. Trägt sie Kontaktlinsen oder ist die Brille nur Dekoration? »Kannst du auch wirklich reiten?«
»Ja.«
»Agent Lewinski hat sich freundlicherweise bereit erklärt, dir sein Pferd zu geben, aber wir dürfen nur Schritt reiten und müssen immer in seiner Nähe bleiben. Brauchst du Hilfe?« Ich schüttele den Kopf. Auch wenn ich den Steigbügel nur knapp erreiche, gelingt es mir aufzusitzen. Das Pferd tritt auf der Stelle und ich bekomme ein Gefühl für das Tier, den Sattel. Erinnerungen prasseln auf mich ein. Pferde, aber wann und wo? Mit geschlossenen Augen reise ich zu einem anderen Ort, einer anderen Zeit. Die Bilder sind nicht konkret, es ist vielmehr ein Gefühl. Von Glück! Geschwindigkeit. Und einer Gewissheit, dass mir nichts geschehen kann, solange ich … was? Die Gedanken eines Kindes, das nichts von der Welt weiß.
»Ist was, Kyla?«
Erschrocken fahre ich zusammen, sehe mich um. »Mir geht es gut. Wie heißt das Pferd?«, frage ich und streichle seine Mähne.
»Jericho«, sagt sie. »Und das ist mein Heathcliff.« Sie klopft den Hals ihres Hengstes, der schnaubt und stampft.
Ganz gemächlich reiten wir los. Wie gewünscht bleibt der Wachmann zurück, glücklich sieht er nicht aus. Schon jetzt kann ich
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