Zerteufelter Vers (German Edition)
und mit der Hoffnung, durch die andauernden Verhöre, Kirts Willen zu brechen, zog sich das Besuchsverbot unendlich lange hin. Es war schon Mitte November, als Gloria quer durch Düsseldorf lief und ihr altes Baumhaus aufsuchte. Doch irgendjemand musste ihr Versteck gefunden haben, denn bunte Kissen und Schnitzereien in der Baumrinde waren bereits auf den ersten Blick zu erkennen. Gloria suchte erst gar nicht mehr nach dem Stock, um das Tau herunterzureißen. Dies war nicht länger ihr Baumhaus.
Es gab so viele Ecken und Stellen, die sie an Kirt erinnerten. Aber nicht nur die Sehnsucht nach ihm machte Gloria fertig… Es war vor allem die schleichende Angst! – Die schiere Panik vor dem Tod; vor ihrem Tod! Gloria setzte sich ans Rheinufer und starrte aufs Wasser. Sie fühlte sich so allein. Wann auch immer sie daran dachte, dass sie sterben würde – sie hatte stets Kirt an ihrer Seite gesehen. Zu ihrem Vater konnte sie nicht, zu Kirt auch nicht. Sie war einfach allein!
Gloria griff nach ihrem Rucksack. So oft schon hatte sie das in der letzten Zeit getan. Aber noch nicht einmal mehr das Buch schien für sie da zu sein. Gloria blätterte die Seiten auf – mittlerweile war sie weit über die Mitte hinaus. Die vielen Todesanzeigen zu Anfang hatten derart viele Seiten gefüllt, dass sie nun den Großteil des Buches auf der linken Hand hielt. Ihre Augen starrten auf jene verwobenen Linien, welche die noch nicht entschlüsselten Seiten zierten – als sich die oberste Reihe der Zeichen plötzlich auseinanderwandte. Gloria hatte dieses Schauspiel selten beobachten können. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Was würde das Buch ihr sagen?
Du bist nicht allein
Liebe Melodie,
sanfter Schein
nehmen dich in den Arm,
lassen dich nicht allein.
So sieh doch bloß,
Leben und Fröhlichkeit sich reimen.
Der Tod ist nicht gegen dich,
soll er sich selbst beweinen?
Die Leere in deinem Herzen,
sie hat ein Recht betrauert zu werden.
Doch die Menschen, die gehn´,
sie gehen nur von Erden.
Hab´ Mut und behalte warm in dir drin,
Deinen wahren Lebenssinn.
Kaum, dass Gloria die Strophen zu Ende gelesen hatte, rannen ihr bereits Tränen über die Wangen. In diesen Versen ging es nicht darum, etwas zu entschlüsseln – es stand da, wie es gemeint war; und es wirkte nett. Aber die Zeilen bildeten einen schwachen Trost, denn immerhin bestanden sie nur aus Worten und die Überschrift fühlte sich mehr danach an, als hätte das Buch sie für einen kurzen Moment in den Arm nehmen wollen. Gloria war allein! Und es nahm sie auch niemand in den Arm – kein sanfter Schein und auch keine liebe Melodie! Das Buch schien nicht dazu imstande zu sein, ihr zu helfen! Nichts war mehr wie früher. Und außerdem ging es in dem Gedicht noch nicht einmal um Kirt. – Dabei drehten sich all ihre Gedanken um ihn; mindestens genauso schwer wie die Angst vor ihrem Tod wog die Sorge um ihn . Wo war er? Was tat er und wie ging es ihm?!
Gloria besaß noch drei letzte Wochen und sie hasste sich dafür! Sie hasste ihr Leben, sie hasste ihren Tod! Alles in ihr und um sie herum tickte wie eine Bombe. Eine Bombe, die am 14. Dezember explodierte. Doch das Schlimmste… Sie würde allein, kalt und bitterlich leise explodieren – niemand bemerkte es und Kirt? Er müsste um sie trauern, obwohl ihm niemand diese traurige Nachricht zukommen ließ. Gloria ekelte es an. – Wer auch immer den Namen ‹Magnus› trug… Dieser Name war so tief in ihr Herz geritzt, dass sie ihn nicht einmal mit dem Tod vergessen würde! Das schwor sie sich. Und sollte sie diesen Kerl jemals in einem anderen Leben treffen: Sie würde ihn umbringen! Gloria spürte die kalt klaffende Sehnsucht, blinde Wut und den Hass, der ihr in den Augen brannte!
Die eiserne Gefängnistür fiel ins Schloss: Derselbe kalte Verhörraum, derselbe kalte Polizist, dasselbe Geschwätz wie immer! Es war eines der unzähligen Verhöre, die Kirt bereits über sich hatte ergehen lassen – doch dieses sollte anders werden: Nachdem Kirt sich auf den Stuhl gesetzt hatte, stellte der Polizist, den er mittlerweile nur zu gut kannte, einen I-Pod samt Zubehör auf den Tisch. »Und was gibt das? Wollen Sie mir jetzt nette Liedchen vorspielen?« Mittlerweile begegnete Kirt dem Polizisten immer öfter mit Galgenhumor und dunklem Sarkasmus. Der Mann vor ihm sah Kirt missbilligend an und drückte auf die Wiedergabetaste. Was Kirt jetzt hörte, löschte alle seine Fragen mit einem Mal aus! Es war eine
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