Zeugin am Abgrund
Verbrechen. Warum fragen Sie mich das überhaupt? Was hat meine Vergangenheit mit dem Mord an Frank Pappano zu tun?”
Agent Rawlins machte weiter Notizen. Als er fertig war, ignorierte er ihren Einwurf und fragte: “Und wo ist Ihr fürsorglicher Vater heute? Warum hat er Ihnen nach dem Unfall nicht geholfen?”
Lauren warf ihm einen eisigen Blick zu, aber er zeigte keine Reaktion. “Mein Vater ist zehn Monate vor dem Unfall gestorben. Danach hat sein Assistent die Funktion des Managers übernommen.”
“Wie heißt er?”
Panik stieg in Lauren auf, als sie sah, dass Agent Rawlins wieder Notizen machte. “Warum wollen Sie das wissen? Er hatte nichts mit dem zu tun, was heute Abend geschehen ist.”
“Beantworten Sie nur die Fragen, Ms. Brownley.”
Sie warf ihm einen wütenden Blick zu, aber auch diesmal konnte sie ihn zu keiner Reaktion bewegen. Er sah sie einfach nur an und wartete. Schließlich atmete sie deutlich vernehmbar aus. “Er heißt Collin. Collin Williams.”
“Wie kann ich mit ihm Kontakt aufnehmen?”
“Ich habe keine Ahnung. Nachdem er erkannt hatte, dass ich nie wieder Konzerte würde geben können, ist er gegangen.”
“Und Sie haben nichts mehr von ihm gehört?”
So gut wie nichts, dachte Lauren, erwiderte aber: “Nein.”
“Verstehe. Sie sagen also, dass Sie nach dem Unfall niemand hatten, an den Sie sich wenden konnten, und darum haben Sie sich Carlo angeschlossen.”
Lauren runzelte die Stirn. “Ich würde es zwar nicht gerade so formulieren, aber im Prinzip stimmt es.”
Agent Rawlins sah sie so lange durchdringend an, dass ihr unbehaglich wurde.
“Mr. Giovessi war da, als ich einen Freund brauchte. Er war wunderbar zu mir”, legte sie trotzig nach.
Plötzlich kamen ihr die Ereignisse des vergangenen Abends in Erinnerung, und mit einem Mal klang es sogar in ihren Ohren unglaublich, dass sie ihn verteidigte. Lauren stöhnte und stützte ihre Stirn in die Hände, während sie mit den Daumen ihre Schläfen massierte. “Ich … ich kann noch immer nicht glauben, dass Frank so kaltblütig umgebracht wurde. Wenn ich es nicht hautnah mitbekommen hätte, würde ich es nicht glauben. Carlo war immer so nett zu mir.”
“Darauf möchte ich wetten.”
Lauren sah auf und bekam mit, wie die Männer zynische Blicke austauschten. “Das war er wirklich!”
“Oh, das glaube ich Ihnen. Carlo ist zu den Frauen in seinem Leben schon immer sehr großzügig gewesen”, sagte Rawlins, ließ seine Worte aber mehr nach einer Beleidigung klingen. “Dann erzählen Sie uns doch mal, was gestern Abend geschehen ist.”
“Nachdem der Club geschlossen war, habe ich noch eine Zeit lang für Mr. Giovessi gespielt.”
“Geben Sie für ihn oft Privatkonzerte?”
“Ja, immer nach meiner Arbeit im Club. Mr. Giovessi liebt klassische Musik, und auch wenn ich nicht mehr perfekt spiele, hat er völliges Verständnis.”
Sie machte sich nicht die Mühe, diesem Mann zu erklären, dass ein Künstler sein Publikum brauchte, was es bedeutete, zu wissen, dass da jemand war, der zuhörte und von den Klängen gerührt war, die man aus dem Instrument herausholte. Der Job am College war nichts weiter als ein Job, ein Weg, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber ihre Seele verlangte nach mehr. Der Job im Club Classico stillte ein wenig ihren Hunger nach Auftritten, aber die große Wertschätzung, die Mr. Giovessi ihrer Musik entgegenbrachte, gab ihr das Gefühl, wieder eine richtige Künstlerin zu sein. Diese Abende waren die Rettung für ihre Seele gewesen.
“Weiter”, wies Agent Rawlins sie an. Lauren atmete tief durch und versuchte ihre Nerven zu beruhigen.
“Nachdem ich gestern Abend etwa eine halbe Stunde lang gespielt hatte, bat Mr. Giovessi mich, ich solle aufhören. Es war sehr merkwürdig, weil ich nicht mal das Stück beenden konnte. Normalerweise kann er von Chopin nicht genug bekommen, aber er sagte, er sei müde. Daraufhin habe ich ihm eine gute Nacht gewünscht. Carlo ging in sein Büro, und ich verließ den Club. Auf dem Weg zum Wagen machte ich dann kehrt, um noch schnell zur Toilette zu gehen. Als die Schüsse fielen, wollte ich mir gerade die Hände waschen.”
Detailliert schilderte Lauren die schrecklichen Ereignisse, die sich angeschlossen hatten. Wiederholt wurde sie von Agent Rawlins oder einem der anderen Männer unterbrochen, um eine Frage zu beantworten. Einzelne Details musste sie mehrmals wiederholen, bevor sie zufrieden waren, aber dann war sie mit ihrer Schilderung
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