Zeugin am Abgrund
lassen. Und doch war sie jetzt abermals in der Situation, die Kontrolle anderen zu überlassen.
“Also, was werden Sie machen?”
Lauren ließ die Schultern sinken. “Ich will es mal so formulieren: Habe ich eine Wahl? Ich möchte nicht sterben.”
“Ich hatte mir gedacht, dass Sie das so sehen würden.”
Agent Owens sah sie mitfühlend an. “Wenn Sie uns die Namen und Adressen Ihrer Familienangehörigen aufschreiben, werden wir sie später informieren. Wenn Carlo im Gefängnis sitzt und wieder ein wenig Ruhe eingekehrt ist, könnten wir sogar arrangieren, dass Sie sich mit ihnen an einem sicheren Ort treffen.”
Lauren schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hände. “Es gibt niemanden. Mein Vater ist vor drei Jahren gestorben, sonst habe ich keine Familie.”
“Keinen Ehemann? Oder einen Verlobten?”
Sie dachte kurz an Collin, dann verzog sie den Mund. “Nein, da ist niemand.”
“Dann wird es ja nicht so schwer sein, irgendwo anders wieder ganz von vorne anzufangen, nicht wahr?” fragte Sam ohne Rücksicht auf ihre Gefühle. “Dann legen Sie gleich mal los und notieren die Größen. Ich gehe in der Zwischenzeit telefonieren. Wenn ich fertig bin, besorge ich alles, was wir brauchen, und dann komme ich Sie abholen.”
Er beugte sich vor und stützte seine Handflächen auf die zerkratzte Tischplatte, dann sah er sie durchdringend an. “Eines sollten wir gleich jetzt noch klarstellen. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, machen Sie genau das, was ich Ihnen sage. Keine Widerworte, keine Diskussionen. Wenn ich sage, Sie sollen springen, dann springen Sie. Verstanden?”
Lauren nickte.
“Gut.”
“Wo… wohin werden Sie mich bringen?”
Er sah den Detective, den Lieutenant und Agent Owen an, ehe sein Blick zu ihr zurückkehrte. “Es ist besser, wenn Sie das nicht wissen.”
Ein Gefühl der Unwirklichkeit umgab Lauren, während sie zusah, wie Agent Rawlins den Raum verließ. Das alles konnte nicht wahr sein. Es musste ein böser Traum sein, aus dem sie bald aufwachen würde.
“Ähm … Ms. Brownley, Sie sollten versuchen, sich noch ein wenig auszuruhen.”
Lauren blickte auf und sah Agent Owens ernstes Gesicht. Der Mann war noch jung, vielleicht zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig. Wahrscheinlich frisch vom College und aus der Ausbildung, die Neulinge beim FBI durchlaufen mussten. Er hatte rötliches Haar, treuherzige blaue Augen und den für Rothaarige typischen Teint -- und er sah so sehr nach einem FBI-Agenten aus wie Elmer Fudd aus den Bugs Bunny Cartoons, die sie früher mal gelesen hatte. Dieses … dieses Kind und der unangenehme Mann sollten sie vor Carlo und dessen Killern beschützen?
Lauren dachte an den düster dreinblickenden Schläger namens Tony und all die anderen, die bereit waren, Carlos Wunsch zu erfüllen. Ein Schauder lief ihr über den Rücken.
“Ma’am?”
Sie schüttelte den Kopf. “Was? Entschuldigung, hatten Sie etwas gesagt?”
“Ich sagte, Sie sollten sich besser noch ein wenig ausruhen. Wenn Sam zurück ist, brechen wir auf. Der Lieutenant hat angeboten, Ihnen die Couch in seinem Büro zur Verfügung zu stellen, wenn Sie etwas schlafen möchten.”
Lauren sah ihn lange an. Sie wollte schreien und toben, weil es nicht fair war. Sie wollte nicht schon wieder von vorn anfangen. Sie wollte keine Zeugin sein. Und sie wollte auf keinen Fall das sichere Polizeirevier verlassen.
Aber das würde nichts ändern. Ob es ihr gefiel oder nicht, sie war eine Augenzeugin, und ihr Leben würde sich erneut ändern. Und es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnte.
Sie hatte keine andere Wahl, also verfiel sie wieder in das wohlerzogene Verhalten, das ihr von Kindheit an eingeimpft worden war. Matt antwortete sie: “Das wäre nett. Vielen Dank.”
4. KAPITEL
“W achen Sie auf.”
Lauren fuhr hoch und sah sich dem Mann mit dem Gesicht gegenüber, das wie aus Stein gemeißelt wirkte. Er hatte sich über sie gebeugt. Sie schrie erschrocken auf und versuchte zurückzuweichen.
“Ruhig, ganz ruhig”, sagte Sam. “Ich bin’s nur. Kein Grund zur Panik.”
Seine Stimme hatte etwas Vertrauenerweckendes. Lauren bemühte sich, den Anflug von Entsetzen zu verdrängen, aber sie atmete immer noch so schnell wie ein Marathonläufer, während ihr Herz wie rasend schlug. Sie legte eine Hand auf ihre Brust und sah Agent Rawlins an. Kein Grund zur Panik? Nach allem, was sie durchgemacht hatte, konnte er kaum erwarten, dass sie anders reagierte, wenn er sich so anschlich.
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