Zeugin am Abgrund
am Ende.
“Als ich von der Gasse in die nächste Straße rannte, bin ich einfach immer weitergelaufen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Einige Blocks weiter entdeckte ich einen Polizeiwagen, den ich dann anhielt. Die beiden Polizisten haben mich schließlich hergebracht.”
Agent Berringer legte eine Hand auf ihren Arm. “Das muss alles sehr schlimm für Sie gewesen sein, aber seien Sie beruhigt, Ms. Brownley. Sie sind hier in Sicherheit. Wir achten darauf, dass Ihnen nichts geschieht.”
“Danke.”
Er sah zu Agent Rawlins. “Und? Was meinst du, Sam?”
Das schroffe Gesicht des Mannes verriet, was ihm durch den Kopf ging. Seine schwarzen Augen ruhten so lange auf Lauren, dass sie gegen den Drang ankämpfen musste, sich unter seinem Blick zu winden. Schließlich sah er den anderen Agenten an und nickte. “Legt los.”
“Wir sind schon unterwegs. Komm, Roy, das wird ein Vergnügen werden, dem alten Carlo die Handschellen anzulegen.”
Die Tür war kaum hinter Berringer und O’Connor zugefallen, als Sam Rawlins vor Lauren einen Notizblock und einen Stift auf den Tisch knallte, dass sie hochschreckte. “Ich muss ein paar Telefonate erledigen. In der Zwischenzeit schreiben Sie alle Größen auf: Schuhe, Strümpfe, Hosen, Blusen, Unterwäsche, BH -- alles von Kopf bis Fuß. Und welche Toilettenartikel Sie außer Zahnbürste und Zahnpasta noch benötigen.”
“Warum?”
“Weil Sie in dem Aufzug dort, wo wir hinfahren, keine fünf Minuten überleben würden.”
“‚Wo wir hinfahren‘? Was soll das heißen? Ich werde mit Ihnen überhaupt nirgendwohin fahren. Sobald Sie Carlo festgenommen haben, gehe ich nach Hause.”
Sam sah sie so spöttisch an, dass sie sich wie ein Kleinkind fühlte, das schwer von Begriff war. “Also wirklich, Lady. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie nach dieser Beobachtung hier einfach hinausspazieren und Ihres Lebens sicher sein können? So naiv kann doch niemand sein.”
“Aber wenn er doch in Haft ist …”
“Hören Sie, Carlo sitzt vielleicht bald hinter Gittern, aber das gilt nicht für seine Leute. Einige von denen warten vermutlich im Moment in Ihrem Apartment auf Sie. Carlo weiß, dass wir ohne Ihre Aussage nichts gegen ihn in der Hand haben, selbst wenn er die Drogen bei sich hat, wenn er gleich abgeholt wird. Seine oberste Priorität ist die, Sie aus dem Weg zu räumen.”
Lauren fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. “Aber … wenn das so ist, dann … dann werden sie doch auch noch hinter mir her sein, wenn er verurteilt worden ist, oder?”
“Ja.”
Agent Owens verzog das Gesicht über die unverblümte Art seines Kollegen. Als Lauren ihn dann ansah, um seine Meinung zu hören, nickte er nur. “Ich fürchte, Sam hat Recht. Wenn er verurteilt wird, geht Carlo in die Berufung. Darauf können Sie wetten. Wenn ihm ein neues Verfahren zugestanden wird und Sie können nicht ein zweites Mal aussagen, steigen seine Chancen, freigesprochen zu werden.”
“Sie müssen nach dem Verfahren verschwinden, damit Carlos Leute Sie nicht finden können”, erklärte Sam Rawlins.
Lauren sah ihn wütend an. “Und wie soll ich das machen?”
Er zuckte mit den Schultern. “Dafür gibt es das Zeugenschutzprogramm.”
“Was?” Lauren blickte ihn fassungslos an. Er hatte es so beiläufig gesagt, als wäre es eine Kleinigkeit. Aber für sie war es alles andere als eine Kleinigkeit. Sie hatte eben erst begonnen, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Ihr war schon einmal alles weggenommen worden, und jetzt sollte das schon wieder der Fall sein? “O mein Gott.” Sie ließ den Kopf in die Hände sinken. “Wie kann das alles sein?”
Sie riss den Kopf wieder hoch. “Was ist, wenn ich nicht aussage?”
“Er bringt Sie trotzdem um.”
“O Gott, was soll ich bloß machen?” Zitternd legte sie eine Hand vor den Mund und sah Sam an.
“Ganz einfach. Sie können jetzt nach Hause gehen, aber das geschieht auf eigene Gefahr. Glauben Sie mir, länger als eine Stunde werden Sie dann nicht mehr leben. Oder Sie sagen aus, und wir sorgen vor und nach dem Verfahren für Ihren Schutz.”
Lauren schüttelte langsam den Kopf. Fantastisch! Einfach großartig! Ihr ganzes Leben lang hatten andere auf sie aufgepasst. Erst in den letzten beiden Jahren hatte sie begonnen, für sich selbst zu sorgen. Es war nicht leicht gewesen, aber seit einiger Zeit hatte sie das Gefühl, Fortschritte zu machen. Sie hatte sich geschworen, sich nie wieder ihre Unabhängigkeit nehmen zu
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