Zeugin am Abgrund
habe ich nicht gesagt. Ich rufe ihn zwei- oder dreimal im Jahr an, meistens am Geburtstag und zu Weihnachten.”
“Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal besucht?”
“Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir uns nicht verstehen. Was soll es also? Wenn wir zusammen sind, streiten wir uns am Ende doch.”
“Aber … er muss doch inzwischen ein alter Mann sein. Wie können Sie nur …?”
“Lassen Sie es gut sein, es geht Sie nichts an.” Obwohl er mit sanfter Stimme sprach, war die Warnung nicht zu überhören. Das galt auch für seinen harten Blick. Als er sicher sein konnte, dass er sie zum Schweigen gebracht hatte, wandte er sich wieder dem Schneeschuh zu.
“Es tut mir Leid, Sie haben natürlich Recht. Ich wollte auch nicht über Sie urteilen. Es ist nur so, dass mein Vater und ich uns sehr nahe standen und er mir sehr fehlt. Ich … na ja, ich könnte mir nicht vorstellen, dass wir uns jemals so stark entfremdet hätten.”
“Es sind nicht alle Familien gleich.”
“Ja, sicher. Das stimmt. Verzeihen Sie bitte. Ich hätte meine Nase nicht in Ihre Angelegenheiten stecken sollen.”
Eine Entschuldigung hatte er eindeutig nicht erwartet. Er starrte sie wieder an und überlegte, ob sie es ehrlich meinte und ob er die Entschuldigung annehmen sollte. Schließlich nickte er und sah wieder auf den Schneeschuh. “Es wird bald Zeit zum Schlafen. Ich schlage vor, Sie machen noch einen letzten Ausflug nach draußen.”
“Okay”, stimmte Lauren leise zu. Sie erhob sich, band das Seil um ihre Taille und schnürte die Schneeschuhe fest. Sie fühlte sich schrecklich, dass sie ein so düsteres Thema angeschnitten hatte. Ganz gleich, für wie unbedeutend Sam die Sache erklärte, war es offensichtlich, dass der Riss zwischen ihm und seinem Vater ihn schmerzte.
Sie fühlte sich seltsam deprimiert, als sie nach draußen ging und sich auf den Weg zur Baumgruppe machte. Komisch, wie schnell man sich an etwas gewöhnen kann, dachte sie, während sie mit eingezogenem Kopf durch die eisige Dunkelheit ging. Noch vor vierundzwanzig Stunden war sie völlig verängstigt gewesen, als sie allein aus der Hütte gegangen war. Visionen von wilden Bestien, die nur darauf warteten, sie anzufallen, waren ihr durch den Kopf geschossen. Jetzt kam es ihr schon wie Routine vor. Oder war sie einfach nur zu erledigt, um sich solche Gedanken zu machen?
Lauren beeilte sich, so sehr es ging, um zur Hütte zurückzukehren. Als sie eintrat, warf Sam ihr ein Fläschchen mit Vitamintabletten zu. “Nehmen Sie eine”, wies er sie an.
Nachdem sie ihre Schneeschuhe abgestreift hatte, legte er seine Arbeit zur Seite, zog die Schneeschuhe über und ging ohne ein Wort mit der Pfanne, in der sich das Wasser vom Abwasch befand, nach draußen.
Lauren sah ihm kopfschüttelnd nach. Sie schluckte die Tablette, putzte sich die Zähne und rieb Gesicht und Hände mit der Lotion ein. Nachdem sie ihr Haar gekämmt hatte, zog sie die Stiefel aus und schlüpfte in den Schlafsack.
Sie sah ins Feuer und spürte, wie eine emotionale Last auf ihre Brust drückte. Sam hatte Recht. Die Beziehung zu seinem Vater ging sie nichts an. Sie waren nicht befreundet. Sie war nichts weiter als eine Zeugin, die er beschützen sollte. Sie sollte sich einfach heraushalten.
Trotzdem musste sie über das nachdenken, was er ihr gesagt hatte. Sie fand es traurig und entsetzlich, dass er und sein Vater sich so auseinander gelebt hatten.
So wie sie war Sam fast nur bei seinem Vater aufgewachsen. Eigentlich hätte das die beiden enger zusammenbringen sollen. Bei ihr und ihrem Vater war das zumindest der Fall gewesen. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, über irgendein Thema mit ihrem Vater derart in Streit zu geraten, dass sie sich völlig von ihm abgeschottet hätte.
Ihr Vater war ein Perfektionist und manchmal auch ein Sklaventreiber gewesen, aber sie hatte ihn von ganzem Herzen geliebt. Und er hatte sie geliebt. Ein Stich ging durch ihre Brust, als sie über die emotionale Leere zwischen Sam und seinem Vater nachdachte. Es ist einfach nicht richtig, dachte sie, während sie herzhaft gähnte.
Lauren legte die Wange so auf ihre Hände, dass es angenehmer für sie war. Ihre Augenlider wurden schwer, als ihr Körper von den Anstrengungen des Tages eingeholt wurde. Sie war bereits eingedöst, da kündigte ein kalter Windhauch Sams Rückkehr an. Erst in dem Moment begann sie über die Situation nachzudenken, die das Übernachten betraf.
In der letzten Nacht war sie zu
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