Zeugin am Abgrund
hätte ihr Gehirn einen Kurzschluss. Seine große Hand auf ihrer beherrschte ihre Gedanken so sehr, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. “Ich … ähm, ja … ich … ich glaube schon.”
“Gut. Machen Sie einfach nur so weiter, bis ich sage, dass Sie aufhören sollen.”
Während Lauren langsam den in die Falle geratenen Hasen über dem offenen Feuer schmoren ließ, arbeitete Sam am letzten Schneeschuh. Sie versuchte desinteressiert zu wirken, doch ihr Blick wanderte immer wieder zu ihm, vor allem zu seinen Händen.
Komisch, dachte sie. Ihr war noch gar nicht aufgefallen, wie schön sie waren. Wahrscheinlich lag es daran, dass er die meiste Zeit dicke Handschuhe getragen hatte. So wie sie selbst. Seine Finger bewegten sich mit unglaublichem Geschick.
War es die intime Situation, dass sie ihn so bewusst wahrnahm? Immerhin saßen sie gemeinsam auf diesem Berg fest, und wie lange das noch so bleiben würde, konnte keiner von ihnen sagen. Der einzige Mann, mit dem sie jemals so viel gemeinsame Zeit verbracht und mit dem sie das Bett geteilt hatte, war Collin gewesen.
Während sie ihn heimlich beobachtete, wurde ihr klar, dass Sam Rawlins und Collin so verschieden waren, wie es nur möglich war.
Ihr Ex-Verlobter war blond und blauäugig gewesen, etwas kleiner als der durchschnittliche Mann und eher schmächtig gebaut. Bei Sam dagegen war die indianische Herkunft nicht zu übersehen, vor allem in seinem schwarzen Haar und seiner dunklen Hautfarbe. Er war groß und muskulös, und sein Körper wies kein Gramm überschüssiges Fett auf.
Aber sie erkannte auch, dass die Unterschiede nicht nur das Äußere betrafen. Collin war von ihrem Vater angelernt worden, also nahm Lauren an, dass er als Manager etwas taugte, obwohl sie das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Bei gesellschaftlichen Anlässen und in der elitären Welt der Klassik waren ihm sein Charme, Esprit und seine Bildung nützlich, in dieser Situation jedoch wäre er völlig hilflos gewesen. Hätte es eine Steigerung gegeben, dann wäre er sogar mehr als hilflos gewesen. Collin hätte nicht nur keine Ahnung gehabt, was zu tun war -- er war nicht der Typ, der etwas ‚tat‘, sondern der Anweisungen erteilte. Ein Fingerschnippen oder ein Anruf beim Concierge des jeweiligen Hotels genügte, damit jemand kam und die Aufgaben erledigte, die unter seiner Würde waren.
Sam dagegen besaß Wissen und Erfahrung, und er zögerte nicht, die Ärmel hochzukrempeln, wenn etwas getan werden musste.
Er war hart und distanziert und manchmal sogar kurz angebunden, doch er war auch stark und geschickt, er wusste viele Dinge und war völlig zuverlässig.
Lauren war nicht sicher, ob sie ihn überhaupt mochte, aber mit einem kleinen Schock wurde ihr klar, dass sie ihm vertraute. Wenn das Schicksal es für sie vorgesehen hatte, dass sie in diese missliche Lage geraten war, konnte sie froh sein, Sam Rawlins an ihrer Seite zu haben.
Der Mann würde nicht nur überleben, wenn er auf einer einsamen Insel mit nichts weiter als einem Bindfaden, einer Sicherheitsnadel und einem Stück Kaugummi strandete, er würde sogar regelrecht aufblühen.
Als Sam ihr sagte, das Fleisch sei nun durch, hatte der köstliche Duft alle Bedenken verdrängt, die Lauren durch den Kopf gegangen waren, weil sie einen Hasen essen wollte. Sie merkte, dass ihr Magen knurrte. Sam tranchierte das Fleisch, verteilte es, und sie aßen im Schneidersitz vor dem Kamin, ohne ein Wort zu reden.
Eine Zeit lang hörte man nur das Kratzen des Bestecks auf den Aluminiumtellern, das Heulen des Winds und das Knistern des Feuers.
Vielleicht waren es ihre strapazierten Nerven, vielleicht auch Langeweile oder pure Neugier, vielleicht lag es aber auch daran, dass die Menschen in ihrer Welt sich während des Essens gepflegt unterhielten. Auf jeden Fall konnte sie die Stille nicht länger ertragen.
“Sie haben gesagt, dass Sie hier in der Gegend zum Campen unterwegs waren. Sind Sie hier aufgewachsen?” fragte sie aufs Geratewohl.
Sam wirkte überrascht. Ob es die Frage oder die Tatsache war, dass sie überhaupt etwas von sich gegeben hatte, wusste sie nicht. Er sah sie an, dann kaute er, schluckte und schnitt ein weiteres Stück Fleisch ab. “Westlich von hier. Auf einer Ranch nahe Monticello.”
“Monticello? Das liegt in …?”
“Utah.”
“Dann haben wir den Staat verlassen?”
“Nein, wir sind noch immer in Colorado.”
Lauren sah ihn an und wartete. Allmählich wurde sie
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