Zeugin am Abgrund
fallen. Er stand in einer fließenden Bewegung auf und tauchte den Teller in den mit Wasser gefüllten Topf, dann hockte er sich hin, um ihn sauber zu machen.
“Ich wasche nachher ab. Erzählen Sie doch bitte erst Ihre Geschichte zu Ende”, drängte Lauren.
Er schrubbte den Teller sauber, dann nahm er den von Lauren. “Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen”, fuhr er schließlich fort. “Meine Eltern stritten sich um das Sorgerecht, aber da die Entscheidung vor einem weißen Gericht von einem weißen Richter gefällt wurde, gewann mein Vater.”
Obwohl er so beherrscht wie immer sprach, konnte sie aus seiner Stimme dennoch Wut heraushören.
″Sie waren nicht glücklich, bei Ihrem Vater zu sein?” forschte sie nach.
“Ich war nicht unglücklich.” Er sah sie an und verzog den Mund. “Mein Gott, mit Ihrem Gesicht sollten Sie besser nie Poker spielen. Sie können sich Ihre Gedanken genauso gut auf die Stirn schreiben. Es gibt keinen Grund, so besorgt dreinzublicken. Mein Vater hat mich weder misshandelt noch vernachlässigt. Wir haben uns einfach nicht verstanden. Das ist immer noch so.” Er zuckte mit den Schultern. “So was kommt vor, das ist keine große Sache.”
“Haben Sie beide sich oft gestritten?”
“Wir sind jeden Tag wie zwei rasende Bullen aufeinander losgegangen.”
“Weswegen?”
“Alles, was Sie wollen. Wir waren nie einer Meinung. Ich konnte ihn nie zufrieden stellen. Nach einer Weile habe ich aufgehört, es zu versuchen.” Er verzog die Mundwinkel. “Um ehrlich zu sein, habe ich mir große Mühe gegeben, ihn zum Kochen zu bringen. Er hasste es, wenn ich meine Mutter besuchte. Ich verbrachte sehr viel Zeit im Reservat, auch nach dem Tod meiner Mutter. Als Teenager begann ich Mokassins zu tragen und mein Haar wachsen zu lassen. Ich habe es zum Zopf geflochten, nur um ihn zu ärgern.”
“Und? Hat es funktioniert?” fragte Lauren leise.
“O ja. Er befahl mir, ich solle mir die Haare schneiden, aber ich machte es nicht, obwohl ich sie eigentlich viel lieber kurz getragen hätte. Man könnte wohl sagen, dass wir beide sehr willensstark sind.”
Stur passt besser, dachte Lauren und unterdrückte ein Lächeln. Sam spülte weiter, setzte sich anschließend im Schneidersitz vor den Kamin und nahm sich wieder den Schneeschuh vor. Lauren legte den Kopf schräg und beobachtete ihn, wie er arbeitete. Die weibliche Intuition war es, die sie die nächste Frage stellen ließ: “Sie glauben, dass Ihr Vater Sie wegen Ihres indianischen Bluts ablehnt, nicht wahr?”
Eigentlich war es nur ein Gedanke gewesen, den sie gar nicht hatte aussprechen wollen, aber irgendwie stand die Frage im Raum, ehe sie sie hatte zurückhalten können. Doch der Blick, den er ihr zuwarf, verriet ihr, dass sie Recht hatte.
Seine dunklen Augen bohrten sich wie Eiszapfen in sie, sein Gesicht war so reglos, dass es wieder wie aus Granit gemeißelt erschien. Er starrte sie unangenehm lange an, doch dann konzentrierte er sich wieder auf den Schneeschuh.
Lauren wusste, dass sie besser nicht weiterbohren oder wenigstens das Thema wechseln sollte. Sam wollte ihre Frage ganz offensichtlich nicht beantworten. Aber aus irgendeinem Grund konnte sie sich nicht zurückhalten. “Sie haben angedeutet, Ihr Vater habe von Ihnen erwartet, dass Sie eines Tages die Ranch übernehmen. Das haben Sie ja offensichtlich nicht gemacht. Liegt Ihnen die Arbeit auf einer Ranch nicht? War das der Grund?”
“Sie sind verdammt neugierig und hartnäckig.”
“Ich denke schon.” Lauren wartete eine Weile, dann hakte sie vorsichtig nach: “Also?”
“Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ich liebe es, auf einer Ranch zu arbeiten. Ich hatte die Double R immer übernehmen wollen, und ich war davon ausgegangen, dass ich das eines Tages auch tun würde. Allerdings nicht zu den Bedingungen meines Vaters.”
“Und was geschah?”
“Nach unserem letzten großen Streit -- ich hatte das College abgeschlossen -- kam ich zu der Ansicht, dass ich genug hatte. Ich verließ die Ranch und bewarb mich noch in derselben Woche beim FBI. Das war vor sechzehn Jahren, und ich habe nie zurückgeblickt.”
″Aber Sie haben sich doch sicher wieder mit Ihrem Vater vertragen. Sagen Sie mir bitte, dass Sie sich ausgesöhnt haben.”
“Wir gehen uns nicht gegenseitig an die Kehle, wenn Sie das meinen. Allerdings liegt das wohl nur daran, dass wir uns nur selten sprechen.”
“Sie reden nicht mit Ihrem Vater?” Lauren sah ihn fassungslos an.
“Das
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