Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
ausgeführt. Aber es ist klar, dass man nicht auf die Krankenschwester wartet, um jemandem, der sich aufgrund mangelnder Beherrschung der Mundmuskulatur beim Essen bekleckert hat, das Gesicht abzuwischen oder um mit ihm, wenn nötig, auf die Toilette zu gehen.
Jeder von uns machte die Erfahrung, dass eine große Kraft von der Berührung ausgeht und dass sie Beziehungen festigt, Jean Vanier allen voran:
Einmal musste ich einen Mann mit geistiger Behinderung baden, er war furchtbar unruhig. Damals war ich jung, groß und ziemlich stark, doch ich konnte ihn nur mit Mühe bändigen. Während ich ihn in den Armen hielt, machten wir beide eine Wandlung durch. Er beruhigte sich nach und nach, als würden wir uns auf eine andere, möglicherweise primitive, aber trotzdem sehr reale Art verständigen. Tief in unserem Inneren geschieht etwas, wenn wir andere mit Respekt berühren, und diese Erfahrung mündet in einer echten Beziehung. Wir verstehen andere Menschen nicht nur mit Hilfe unserer Intelligenz, sondern mit dem ganzen Körper.
Philippe Pozzo di Borgo stellt fest, dass seine Gesprächspartner weniger angespannt sind, wenn sie ihn vorher berührt haben.
Die Weigerung, jemanden zu berühren, mag mit der Angst zusammenhängen, ihm Schmerzen zuzufügen. Aber man kann mich ja fragen, ob die Berührung mich verletzt. Ich habe auch das Gefühl, dass die Angst, mich und meine Behinderung zu berühren, darin begründet ist, dass sie bei den anderen ihre eigene Angst vor dem Tod wachruft. Allerdings nehme ich auch körperlich eine Beruhigung wahr, nachdem der Kontakt hergestellt wurde und die Abwehr meines Gegenübers nachgelassen hat.
Von der Berührung zur Zärtlichkeit
Die Ablehnung der Berührung hängt häufig mit ihrer sexuellen Konnotation zusammen. Tatsächlich ist sie aber eine Hinwendung zur Zärtlichkeit, wobei die Zärtlichkeit, die wir meinen, nicht unterdrückte sexuelle Lust ist, sondern eine Bestätigung des Anderen in seinem Selbstwert und in seinem Gefühl zu existieren. Es ist ein beruhigender, sanfter, zarter Kontakt. »Eine zärtliche Geste«, so der inzwischen verstorbene Arche-Psychiater Patrick Matthias, »ist zugleich ein inniger Akt und eine körperliche Art, das Gefühl eines sozialen Bandes zu vermitteln.«
Im Gegenzug geben wir unseren Schutzpanzer auf. Wir entblößen uns und setzen uns dem Risiko aus, verletzt zu werden. Zärtlichkeit ist ein entscheidendes Gefühl, denn sie drückt aus, dass wir uns gegenseitig ergänzen, und festigt die Beziehung.
Mit Geduld kann sie sich voll entfalten. Das hat Hélène zusammen mit Edith entdeckt.
Ich war überzeugt, dass ich zärtlich zu Edith war, die ich pflegte, und dass ich sehr viel Geduld aufbrachte. So war ich dann auch insgeheim eingeschnappt, weil ich das Gefühl hatte, dass sie meine Bemühungen ablehnte. Ihr Verhalten erklärte ich mir mit ihren eigenen Verletzungen, die mit ihrer Behinderung zusammenhingen. Doch ein Kollege machte mich darauf aufmerksam, dass ich ruppig wurde, wenn die zu erledigende Aufgabe nach meinem Ermessen zu lange dauerte. So würde ich Hélène nicht helfen, in ihrem eigenen Tempo Fortschritte zu machen, sondern sie im Gegenteil entmutigen. Es fiel mir nicht leicht, mich zu ändern, doch ich strengte mich noch mehr an, achtete auf das geringste Beben, das mich durchlief, die kleinsten Veränderungen, die darauf hindeuteten, dass ich ungeduldig wurde. Allmählich besserte sich unsere Beziehung, und ich begriff, dass meine vermeintlich zärtlichen Gesten oft nichts als höfliche Fürsorge gewesen waren. Als ich die Geduld erlernt hatte, wunderte ich mich selbst am meisten, welch enormen Nutzen ich daraus zog! Ich kam innerlich zur Ruhe, ohne dass ich meine Aufgabe weniger engagiert oder verantwortungsvoll erfüllt hätte, im Gegenteil, die Geduld verlieh mir eine erstaunliche Kraft und erlaubte es mir, die neu entstandene Zärtlichkeit zwischen Edith und mir zu genießen.
Von der Zärtlichkeit zur Geduld
Wir sind ungeduldige Menschen in einer ungeduldigen Gesellschaft. Wir gönnen unserer Persönlichkeit nicht die für ihre Entwicklung erforderliche Zeit zum Lernen und zum Heranreifen. Ebenso fehlt uns oft die Zeit, um Projekte, für die man einen längeren Atem braucht, zu einem guten Ende zu bringen. In unserer impulsiven Kultur, in der man »alles, am besten sofort« haben möchte, kann die zeitliche Verschiebung zwischen dem Äußern eines Wunschs und seiner Befriedigung eine unerträgliche
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