Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)
Verletzlichkeit fordert uns auf, wieder eine gemeinschaftliche Dimension zu erschaffen. Dabei soll der technische Fortschritt dieses Jahrhunderts nicht geleugnet, sondern in eine humanere Gesellschaft eingebunden werden, in der jeder Mensch so akzeptiert wird, wie er ist.
Doch selbst wenn wir den anderen akzeptieren und ihm mit Respekt begegnen, müssen wir den Tatsachen ins Auge sehen: Die Verletzlichkeit bringt unsere Mängel ans Tageslicht. Wir müssen darauf gefasst sein, mit unseren eigenen Ängsten konfrontiert zu werden. Diese können wiederum sogar Aggressionen auslösen, wie Jean Vanier berichtet:
Jacques schrie häufig. Eines Tages brüllte er mindestens zwei Stunden lang. Ich hielt es nicht mehr aus. In mir brodelte es, ich verspürte eine Gewaltbereitschaft, die ich nicht kannte, oder zumindest war ich bis dahin überzeugt gewesen, dass ich sie unter Kontrolle hatte. Die Angst, die er mit seinem Schreien ausdrückte, machte mich auf meine eigenen Ängste aufmerksam. Sprachlos beobachtete ich, wie in mir Aggressivität hochkochte. Mein Schutzwall stürzte ein. Ebenso entgeistert wie entsetzt nahm ich wahr, dass verletzliche Menschen zwar an das Gute in mir appellierten, aber auch die Fähigkeit hervorriefen, Böses zu tun.
Am häufigsten geben wir uns in unserer Beziehung mit verletzlichen Menschen der Illusion hin, dass wir gut sind, unverwundbar. Und dann holt uns plötzlich die Wirklichkeit ein. Wir ärgern uns über Jeannes unkoordinierte Bewegungen, wenn sie den Löffel zum Mund führt, Jacques’ Schreie gehen uns auf die Nerven, Claras ewiges Fragen nach unserem Vornamen treibt uns zur Weißglut. Wir merken, dass der verletzliche Mensch unerträglich für uns wird und unsere Ängste und Abwehrmechanismen weckt. In diesem Moment ist es sehr wichtig, sich einzugestehen, dass Gewalttätigkeit in uns schlummert. Nur so kann man sie überwinden.
Eine wirkliche Gemeinschaft von Schwachen und Starken schützt in dem Fall vor einer Entgleisung, bei der, selbst wenn es nicht zu physischer Gewalt kommt, beide Seiten verletzt werden könnten. Die Gruppe ist absolut notwendig, um die Gefühle äußern zu können, die man bis dahin zu beherrschen glaubte.
Die wechselseitige Abhängigkeit braucht man also nicht erst zu entdecken, wenn man darauf angewiesen ist. Man kann sie auch im täglichen Leben finden. Vielleicht fällt uns ja in der Schule, bei der Arbeit, in unserem Haus jemand auf, der besonders verletzlich ist und auf den wir zugehen könnten. Ein erster Schritt – diskret, schüchtern, zögerlich –, gefolgt von einem zweiten, hilft uns, allmählich die Barriere einzureißen, die uns von diesem Menschen trennt.
IM WORT »UNBERÜHRBAR« STECKT
DIE BERÜHRUNG
In Indien gelten die aus dem Kastensystem ausgeschlossenen Unberührbaren kaum als Menschen. Die Dalits (die Zertretenen), wie sie sich selbst nennen, werden als unrein angesehen und schrecklich diskriminiert. Sie sind buchstäblich unberührbar, denn wenn man mit ihnen oder auch nur mit ihrem Schatten in Kontakt kommt, wird das als Besudelung empfunden. Die Ablehnung der Dalits als gesellschaftlicher Gruppe spiegelt sich in der Aversion gegen ihren Körper.
Eine Szene im Film Ziemlich beste Freunde (Originaltitel: Intouchables , Die Unberührbaren) erzählt mit Humor von der Bedeutung der Berührung in Beziehungen mit verletzlichen Menschen. Driss protestiert, als er merkt, dass es zu seiner neuen Aufgabe als Pfleger gehört, seinem querschnittsgelähmten Chef Kompressionsstrümpfe anzuziehen. Mit allen möglichen Argumenten versucht er, darum herumzukommen, weil er die Aufgabe als erniedrigend empfindet, zumal er sich dazu hinknien müsste, eine Position, die Unterwerfung signalisiert. Doch schließlich gibt er nach.
Frei von einer sexuellen Komponente drückt man durch die Berührung aus, dass man die Verletzlichkeit des anderen akzeptiert – aber auch die eigene.
Regelmäßig stellen wir fest, dass die Beziehung mit einem verletzlichen Menschen sich durch die Berührung tiefgreifend wandelt und eine unerwartete Dimension erhält. Mehrere Helfer erzählten uns beschämt, dass sie zunächst wenig begeistert waren, als sie merkten, wie viel Körperpflege zu ihren Aufgaben gehörte. Medikamente zu verteilen, Wäsche zu waschen, in den Zimmern staubzusaugen – das alles fiel ihnen nicht schwer. Doch dass das Waschen so wichtig sein sollte, störte sie. Ein Großteil der Körperpflege wird von geschultem Personal
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