Zigeuner
Kühlschranks. So wie für Familie Szekely. Stefan Szekely, seine Frau Ancuta sowie ihre Kinder Maria, Isabella und Daniel, neun, sechs und vier Jahre alt, widerlegten Lucians Erfahrung, dass es keinen Sinn mache, wintertags vor zehn Uhr morgens in Plopilior an eine Tür zu klopfen, weil die Leute dann noch schlafen würden. Nicht so Familie Szekely. Sie saß in der geheizten Küche um den gedeckten Tisch, und weil es an diesem Dezembermorgen bitterkalt war, hatte Ancuta ihren Kindern ein deftiges Frühstück mit Bratkartoffeln, Spiegeleiern und Schweinswürsten zubereitet. Die Familie befand sich im Winterurlaub. »Bis Ende Februar bleiben wir hier zu Hause«, meinte der 36-jährige Stefan. »Jetzt ist es in Frankreich zum Betteln zu kalt.«
Seit 2007 fahren die Szekelys drei oder vier Mal im Jahr mit den Groß- und Schwiegereltern und einigen Verwandten für ein paar Wochen an die Côte d’Azur nach Nizza. »Wir wohnen außerhalb der Stadt, in einer Industriezone. In einem leerstehenden Warenlager haben wir uns unter einer Treppe mit Matratzen, Wolldecken und Pappkartons einen Schlafplatz eingerichtet«, erzählte Ancuta. Während ihr Mann Stefan auf die Kinder aufpasse, würden die Frauen tagsüber im Zentrum sitzen und um Almosen bitten. »Weil wir das besser können als die Männer. Mit Frauen haben die Leute mehr Mitleid.« Am erfolgreichsten bettele es sich sonntags, vor den Kirchenportalen. Gerade nach den Gottesdiensten seien die Katholiken einigermaßen spendabel, so die 30-Jährige. Dabei streckte sie ihre offenen Hände aus, setzte eine ergreifende Leidensmiene auf und rief gequält: »S’il vous plaît, madame! S’il vous plaît, monsieur!« Ancuta lachte und gestand freimütig, außer ein paar Floskeln und den alltäglichen Redewendungen wie »Bonjour, bonsoir« und »Merci bien, monsieur« kaum französisch zu sprechen. Die Namen der Kirchen, vor denen sie regelmäßig saß, kannte sie nicht. Sie erinnerte sich nur an einen freundlichen Pfarrer. »Der will uns immer helfen und schaut mit einer netten Frau vorbei. Sie ist sehr sozial und möchte, dass wir Französisch lernen und die Kinder zur Schule schicken. Das wäre schon gut. Nur wozu? Zum Betteln braucht man die Sprache nicht.«
Nie würde Familie Szekely nach Spanien oder Italien fahren. »Man hört von den Italienern wenig Gutes«, meinte Stefan. »Aber die Franzosen, die mögen die Zigeuner. Weil sie selber welche haben. Die Franzosen demonstrieren sogar für uns, gegen ihren eigenen Präsidenten. Vor ein paar Jahren hat die Regierung jedem von uns 300 Euro geschenkt, damit wir unterschreiben, wieder nach Rumänien zurückzukehren. Da sind wir alle nach Hause gefahren und nach ein paar Tagen mit dem Bus wieder zurück.« Ohne Probleme? »Ohne Probleme!«
Als Nicolas Sarkozy 2010 die rigorose Räumung von Roma-Lagern am Rande französischer Großstädte veranlasste und Tausende rumänischer Tzigani in ihr Heimatland abschieben ließ, waren die Szekelys von den Zwangsmaßnahmen nicht betroffen. »Wir haben von den Ausweisungen natürlich gehört«, so Familienvater Stefan, »aber in Nizza blieb es ruhig. Aber wir waren auch nur wenige Familien dort. Wir blieben unbehelligt, weil der Bürgermeister keinen Ärger machte und die Polizei uns in Frieden ließ.«
Und warum? »Die Polizisten kennen uns seit Jahren. Wir trinken nicht, wir machen keinen Krach und stören niemanden mit lauter Musik. Vor allem stehlen wir nicht. Wir sind eine ehrliche Familie.«
Lucian nickte bekräftigend und betonte, die Szekelys seien redliche Leute und würden jeden erbettelten Euro tatsächlich in die Verbesserung ihrer Lebenssituation stecken. »Wenn die Sippen aus unseren Gemeinden nach Frankreich fahren, kehren sie mit einem anderen Blick zurück. Sie fangen an zu vergleichen. Sie haben gesehen, wie die Franzosen leben und wollen nicht mehr in ihren Lehmhütten hausen. So beginnt die Veränderung.«
Bei Familie Szekely war der Fortschritt gegenüber den Nachbarn nicht zu übersehen. Ancuta hatte darauf bestanden, dass von dem ersten Bettelgeld ein Kühlschrank angeschafft wurde, um in den heißen Sommermonaten die Lebensmittel länger frisch halten zu können. Danach ließen die Szekelys das undichte Dach decken, die Fassade wurde verputzt, ein Steinfußboden verlegt und das Haus mit neuen Stromleitungen verkabelt. Anschließend machten sich Ancuta und Stefan an das Interieur. Schritt für Schritt, wie sie betonen. Kochherd und Bad, ein Schlafsofa für die
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