Zigeuner
Kinder, Couchtisch und Schrankwand für die Wohnstube. Selbstverständlich auch ein neuer Fernseher. Doch anders als bei den meisten Roma-Familien lief der Apparat bei den Szekelys nicht rund um die Uhr. Nur abends. Tagsüber wurde das Gerät mit einer Wolldecke vor Staub geschützt. Das mag man spießig nennen, doch sprach daraus eine Wertschätzung der Dinge, die in Plopilior eher selten zu finden war. Die Achtlosigkeit auf der rechten Seite der Siedlung war deprimierend. So hatte Lucian, um das gravierende Müllproblem in den Griff zu bekommen, hinter seiner Kirche einen Abfallcontainer aufstellen lassen. Anschließend verkam das umliegende Terrain zu einer Müllwüste, der Container selbst blieb leer, was die Bewohner überhaupt nicht zu stören schien.
Lucian war sich darüber im Klaren, dass die Roma in seinen Gemeinden von einem bürgerliches Leben mehr trennte als eine funktionierende Abfallentsorgung, neue Sitzgarnituren und Flachbild- TV s. Bei Familie Szekely hatte der Einstieg in den Ausstieg aus der Armut einen hohen Preis. Den zahlten die Kinder, deren Zukunft ungewiss war. Bislang wurden Maria, Isabella und Daniel von ihren Eltern immer mit nach Frankreich genommen, wo sie weder eine Schule noch einen Kindergarten besuchten. Nun ging die neunjährige Maria in die Volksschule in Plopilior, und auch ihre Geschwister mussten nach dem Gesetz bald eingeschult werden. Nur vertrug sich die Schulpflicht der Kinder in Rumänien nicht mit den Betteltouren der Eltern nach Frankreich. Die jedoch waren für Stefan Szekely unverzichtbar geworden. Er kalkulierte mit zukünftigen Einnahmen und war auf die Betteleuros angewiesen. Für die häuslichen Anschaffungen, die Renovierungen und einen Teil des Baumaterials hatte er Kredite aufgenommen, die abgestottert werden mussten. Bis spätestens zum Winterende, wenn es zurück nach Nizza ging.
Familien wie die Szekelys bilden innerhalb der Zunft der Bettler eher eine Ausnahme. Sie fahren unabhängig und auf eigenes Risiko nach Westeuropa und hocken nicht für irgendwelche Clanchefs in den Einkaufszonen. Die Einnahmen bleiben in der eigenen Kasse, dafür hat die Familie sämtliche Kosten für die Reise, für Unterkunft und Verpflegung sowie den Transport vor Ort zu tragen. Die 1800 Buskilometer von Blaj nach Nizza scheinen auf den ersten Blick günstig: 70 Euro zahlen Erwachsene, 40 Euro die Kinder. Doch die Transportunternehmer schlagen aus der Erfahrung Kapital, dass die Roma bei der Rückfahrt mehr Geld in den Taschen haben als auf dem Hinweg. »Zurück«, so Stefan Szekely, »kostet die Fahrt fast das Doppelte.« Aber nur für diejenigen, die genug erbettelt haben, um bar zu zahlen. Für die anderen, die kein oder zu wenig Geld haben, steigt der Preis kurioserweise um ein Vielfaches. Die Mittellosen sind auf illegale Schwarzunternehmer angewiesen. Sie transportieren Fahrgäste auch auf Kredit. Gegen horrende Zinsen. »Wir fahren nur mit den offiziellen Busgesellschaften wie Eurolines oder Atlasib«, sagte Szekely, »nie mit den Schleppern. Die nehmen die Leute nur aus.«
In Tschechien und der Slowakei, vor allem aber in Rumänien und Ungarn hatte ich immer wieder von mafiösen Kredithaien unter den Roma gehört, die ihre eigenen Leute hemmungslos ausbeuteten. In Ungarn waren die illegalen Kreditgeschäfte derartig ausgeufert, dass die Regierung 2009 mit dem Paragrafen 330a eigens den Straftatbestand der Wucherei, in der Behördensprache »unzulässige Bankentätigkeit« genannt, in das Strafgesetzbuch aufnahm. »Dass Roma heutzutage andere Roma ausnehmen und ihre Notlage ausnutzen«, fand die Bürgerrechtlerin Angéla Kóczé »einfach nur schrecklich«. Der Zinswucher sei ein »äußerst ernstes Problem«, das hineinführe »in sehr gefährliche Milieus«. Ich traf die Roma-Aktivistin in Budapest, wo sie sich leidenschaftlich für die Integration der Cigány in die ungarische Gesellschaft engagierte, zugleich aber auch einen unverstellten Blick auf die hausgemachten Probleme ihres Volkes warf.
Angéla Kóczé wurde 1970 in einer Roma-Siedlung im ländlichen Nordosten Ungarns geboren und stammte aus einer Familie, »in der niemand lesen und schreiben konnte«. Mit dem unbändigen Willen, Armut und Unwissenheit hinter sich zu lassen und gefördert von dem Open Society Institute des ungarnstämmigen amerikanischen Großspekulanten George Soros, hatte sie den Weg in die Budapester Akademie der Wissenschaften geschafft, wo sie als Soziologin sozialintegrative Konzepte
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