Zigeuner
in den Armen ihrer Mütter hingen, apathisch, mit leeren Augen, oftmals ruhiggestellt mit Schlaftabletten, waren nicht der Grund, weshalb ihre Mütter bettelten. Der erbärmliche Zustand der Kinder war die Folge der Bettelei. Unübersehbar waren einige Jungen und Mädchen bereits verhaltensgestört. In quälender Monotonie leierten sie ihr »Faim, faim, faim« herunter, Hunger, Hunger, wobei sie wie kleine Maschinen die Hand zum Mund führten.
»Una moneda, una moneda, una moneda!« Morgens und mittags, abends und nachts saß eine Frau in Schwarz namens Teresa auf dem Bürgersteig, dort wo die Alte Brücke auf die Avenue Bernadette Soubirous trifft. Auch am letzten Abend meiner Lourdes-Reise. Es dämmerte bereits, ein kräftiger Regen hatte eingesetzt, und die Pilger zogen mit Kerzen und Schirmen zur abendlichen Lichterprozession. Ungeschützt hockte die alte Teresa auf einem durchweichten Pappkarton, mitunter ruckte sie ihren Oberkörper vor und zurück wie ein aus dem Takt geratenes Uhrwerk. Jedem Passanten streckte sie ihren Plastikbecher entgegen. »Una moneda, una moneda«. Wie vom Endlosband. Sie hatte nicht einmal registriert, dass sie nicht mehr in Spanien bettelte, sondern auf der Pont Vieux in Frankreich. Teresa war mutiert zu einem Bettelautomaten, den man morgens abstellte und abends abholte, um das Münzfach zu leeren. Es war nicht leicht, in ihr den zutiefst bedürftigen Menschen zu sehen, jenseits des »una moneda«. Das wahre Elend hinter der gespielten, zur Schau gestellten und gewiss auch echten Not der Roma nahm niemand mehr wahr. Das war ihre Tragik.
Als ich mich auf den Heimweg zum Bon Pasteur machte, verstand ich, wie aufreibend der Sisyphusdienst meines Freundes Lucian war. Er wusste, dass die Zukunft der Roma aus Blaj nicht auf französischen Trottoirs zu finden war. Und er wusste auch, dass der Weg in Freiheit und Unabhängigkeit mühsam war. Er forderte von seinen Leuten in Plopilior, dass sie endlich lernten, die Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Kinder zu übernehmen.
Gegen halb elf traf ich Tarzan. Er saß noch immer mit seinen Kindern im Regen unter einer Straßenlaterne vor dem Saint François d’Assise und wartete auf die letzten Wallfahrer, die bewegt von den Gesängen der Ave-Maria-Prozession in ihre Hotels zurückkehrten. Ein älteres Schweizer Ehepaar kam den Bürgersteig entlang und trat auf die Kinder zu. Der Mann beugte sich herab und schenkte Lutza eine Handvoll Bonbons. Die Kleine riss das Papier ab und stopfte gleich mehrere in sich hinein. Ihr Vater schimpfte. Nicht mit seinem Kind. Er schimpfte über den freundlichen Mann und seine Frau. Ich verstand nicht, was Tarzan umtrieb, bis er seiner Tochter an den Kiefer griff und ihren Mund öffnete. »Schau! Schau dir das an!« Lutzas Zähne, soweit noch vorhanden, waren von Karies zerfressen. »Wie kann man einem Kind mit so kaputten Zähnen bloß Bonbons schenken?«, gab mir Tarzan zu verstehen. Nicht ohne erneut um Geld zu betteln. »Nicht für mich! Für Lutza. Für den Zahnarzt.«
KAPITEL 13
Glaube und Schicksal
Eine Hochzeit, die keine war – Der Blick des fremden Auges und die Sehnsucht, gesehen zu werden – Die Schicksalsengel – Mächtige Kerzen für die allmächtige Madonna – Beter, Büßer, Hallelujas – Ein gescheiterter Deal mit Gott – Der Rom der Zukunft: kein Bier, kein Tabak, kein Tanz – Wir sind gleich, wir sind anders – Ein müder König und die verpasste Chance, ein Millionär zu werden
Wir leben in denselben Ländern und in denselben Städten, und doch sehen Gadsche und Roma dieselbe Welt mit anderen Augen an. Womöglich sehen wir dasselbe, nur lesen wir die Zeichen anders, interpretieren das Gesehene auf verschiedene Weise. Dass man mit der Auslegung altbekannter Signifikanten ziemlich danebenliegen kann, wurde mir klar, als ich in Bulgarien meinte, eine Hochzeit fotografieren zu müssen. Eine Hochzeit, die keine war.
Ende der neunziger Jahre war ich mit Elena Maruschiakova und Vesselin Popov nach Plovdiv gefahren, um in Stolipinovo, der größten bulgarischen Roma-Kolonie, den angesehenen Bürgerrechtler Anton Karagiozov kennenzulernen und einige Eisenschmiede vom Stamm der Burgudži in ihren Werkstätten zu fotografieren. Obwohl Stolipinovo keineswegs außerhalb der Stadt liegt, war es nicht einfach, in das Viertel zu gelangen. Kein bulgarischer Taxifahrer war bereit, uns zu fahren. Elena und Vesselin beteuerten, sie hätten gute Freunde in Stolipinovo, was genauso wenig nützte
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