Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
Vom Netzwerk:
war niemand hier. Wir schließen sie nicht aus, doch sie fragen nicht um Hilfe nach. Sie fallen völlig aus dem System heraus.«
    So blieben schwere chronische Erkrankungen unbehandelt. Vor allem bei den Kindern. Parasiten und Würmer zerstörten ihre Verdauungsorgane, der beißende Qualm und die frostigen Winter griffen ihre Lungen an, schlimme Hautentzündungen mochten nicht heilen. Keiner der Erwachsenen war ansatzweise in der Lage, so etwas wie elterliche Fürsorge auszuüben, während die geistige Abstumpfung selbst pfiffigste Kinder verkümmern ließ. Das Gesetz zur Schulpflicht interessierte auf der Halde nicht. Die Behörden hatten die Zigeuner längst abgeschrieben und ihrem Schicksal überlassen. »Die Roma und ihre Kinder sind die Verlierer der Demokratie«, meinte die Caritas-Ärztin Gyöngyi. »Für sie hat das freie Rumänien nichts gebracht.«
    Mit dem Wort Demokratie wusste der alte Lakatos nichts anzufangen. Er hatte keinen Schimmer, was damit gemeint sein könnte. Er sprach noch nicht einmal den Satz aus, den man unter den Arbeits- und Obdachlosen in Rumänien ständig hörte: »Unter Ceauşescu war alles besser.« Ob ein Despot regierte oder irgendeine Partei, das war für Lakatos, der seit drei Jahrzehnten im Müll lebte, »alles ganz egal«. Seine Frau nickte zustimmend. Dann wendete sie sich wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung zu. Sie las. Das konnten nur wenige auf der Halde. Unbeirrt vom Geschrei ihrer Enkel lag sie stundenlang auf einer löchrigen Matratze, blätterte in alten Illustrierten und löste die Kreuzworträtsel. Am allerliebsten betrachtete sie die schönen Frauen aus den Modezeitschriften. Dabei vergaß sie das Inferno aus brennenden Autoreifen und faulenden Rinderknochen um sich herum und lächelte still in sich hinein.
    »This life is not a good life.« Ilona Horwarth sagte das auf Englisch. Als einzige Nicht-Roma auf der Halde fiel »die weiße Frau« auf. Vor ewigen Jahren hatte die Rumänin ungarischer Abstammung das Abitur bestanden. Sie hatte gearbeitet, genau wie ihr Ehemann Laszlo, der in der Elektrizitätsversorgung beschäftigt war. Bis er krank wurde. Laszlo krempelte sein Hemd hoch und zeigte die Ursache seiner Arbeitslosigkeit. Sein entstellter Leib zeugte von einem halben Dutzend stümperhafter Operationen.
    »Wir mussten unsere Wohnung in der Stadt aufgeben. Hier brauchen wir kein Geld für Essen und Miete«, erklärte Ilona. Doch vier Jahre auf der Halde hatten sie gezeichnet. Die Zähne waren ihr ausgefallen, ihre Beine waren vereitert. Nur ein verblasster Traum war ihr geblieben. Sie wollte nicht, dass ihr kleiner Sohn Norbi im Abfall groß wurde. Ilona Horwarth wehrte sich dagegen, dass ihr die Müllkippe zur inneren Heimat wurde, dass ihr der Müll den letzten Funken ihrer Würde nahm. Doch sie ahnte auch: Aus eigener Kraft würde sie den Traum vom besseren Leben nicht verwirklichen können. Denn das hing ab von der Antwort auf die Frage: »Wo sollen wir bloß hin?«
    Nicht die Slums von Jakarta und Kalkutta, nicht die Favelas in Bogotá oder die Elendsviertel im Kongo, sondern Episcopia Bihor wurde für mich zum Ort, an dem ich alle gängigen Definitionen von Armut korrigieren musste. Gemeinhin wird darunter ein Mangel an Geld, Nahrung, Wohnung und Gesundheit, aber auch ein Defizit an Bildungschancen und Teilhabe am öffentlichen Leben verstanden. Als absolut arm gilt, wem täglich nicht mehr als ein US -Dollar für seinen Lebensunterhalt zur Verfügung steht. All diese Definitionen indes beschreiben ein letztlich äußerliches Bild von Armut, deren grausamste Form es jedoch ist, wenn Menschen jeder Sinn für ihren Wert und ihre Würde fehlt. Der Müll war den Zigeunern nicht bloß äußerlich geblieben. Er hatte sich ihres Denkens und Fühlens bemächtigt, wobei sie jeglichen Sinn für ihre Haltlosigkeit verloren hatten.
    Bei einer späteren Reise nach Oradea hatte ich für die Müllkinder und ihre Mütter mein Auto vollgepackt. Unter Freunden daheim hatten wir Kleider gesammelt, meine Frau hatte alle Stücke gewaschen, gebügelt und gefaltet. Mit ziemlicher Naivität bat ich ein paar Frauen auf der Halde, mir beim Verteilen der Kleider zu helfen. Die Aktion geriet zum Debakel. Kaum hatte ich die Heckklappe geöffnet, zerrten sie die Säcke heraus und fielen nicht nur über die Kleider her, sondern auch über einander. Sie schrien, stritten und heulten, bis ihre wütenden Männer heranstürmten. Anstatt ihre Frauen zur Räson zu bringen, richtete sich ihr

Weitere Kostenlose Bücher