Zigeuner
Schritt aus der Armut herausführten. Selbstverständlich gab es auch Streit und Neid, aber bei all den Konflikten des Alltags und bei aller materiellen Not hatten sich die Scavenger das elementare Wissen bewahrt, dass ohne Gemeinschaft und gegenseitige Unterstützung ein besseres Leben nicht möglich war.
Und die Roma von Episcopia Bihor? Wenn Wilma Lakatos für ihre Kinder Abfallkartoffeln brutzelte, ließ sie ihre Kochstelle nicht eine Sekunde aus ihren wachsam blitzenden Augen. »Man muss ständig aufpassen«, sagte sie, »sonst klauen einem die anderen den Topf leer.«
Dass die Roma aus dem Kreislauf des Recyclings, des Sammeln, Vertreibens und Wiederaufbereitens von Müll herausgefallen waren, mag an den miserablen Preisen für Rohstoffe gelegen haben. Jozeph Orosz, der schon zwanzig Jahren auf der Müllkippe lebte, erinnerte sich, dass er früher ab und an etwas Alteisen und Säcke mit Getränkedosen losschlagen konnte, an »einen Chef im Centro«, dessen Namen er nicht mehr wusste. Doch irgendwann sanken die Preise für Glas, Papier und Altmetall derart in den Keller, dass sich nicht einmal der Transport lohnte. Zudem waren die Menschen auf der Kippe aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, selbst kurze Zeit an einem Stück zu arbeiten. Der Monatsverdienst von Jozeph Orosz reichte gerade für ein paar Schachteln filterloser Carpati-Zigaretten und einige Flaschen billigsten Alkohols. Anders als die Schrottsammler, die im ungarischen Kerepes mit ihren Pferdekutschen altes Eisen aufklaubten, oder die Frauen, die in der mazedonischen Roma-Siedlung Madari Altpapier sortierten, irrten die Scavenger aus Oradea nur planlos auf der Halde umher. Die Dinge, die sie fanden, waren mal weniger, mal vollkommen unnütz. Das Kühlgerippe eines Eisschranks, ein Sessel ohne Polster, eine ausgelaufene Autobatterie, vielleicht bestand ihr trister Gebrauchswert allein darin, dass sich derlei Sachen den einen Tag hierher und am Tag drauf dorthin tragen ließen, um zu verschleiern, dass sie schon lange keinen Tauschwert mehr besaßen. Nur eine einäugige blondgelockte Puppe in schmuddelrosa Rüschenkleid weckte eine Weile Begehrlichkeiten unter den Müllkindern, bevor sie wieder achtlos weggeworfen wurde.
Umgerechnet 25 Euro standen jedem mittellosen Bewohner aus Oradea an städtischer Sozialhilfe zu. Für die Roma auf der Müllkippe galt dieses Gesetz nicht. Denn Anspruch auf staatliche Hilfe hatte nur, wer einen festen Wohnsitz nachweisen konnte. Das konnten die Müllmenschen nicht. Denn ein paar leere Ölfässer mit Presspappe in Episcopia Bihor galten nicht als Wohnung.
»Oradea war immer eine recht wohlhabende Stadt. Und wer hat, dem wird gegeben. So steht es in der Bibel.« Das sagte der ungarnstämmige Istvan Kapy, ein gepflegter Mittfünfziger und seit acht Jahren stellvertretender Bürgermeister. Wenn er in dem renovierten Rathaus von Oradea von den Zukunftschancen seiner Stadt erzählte, dann blühte er auf. Er sprach vom Boom in der Textil- und Schuhindustrie, von westlichen Investoren, die bereits Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen hatten, schwärmte von Millionen-Dollar-Projekten für infrastrukturelle Maßnahmen, von den Plänen für Fernwärmeheizungen, einer effizienten Trinkwasserversorgung und hochmodernen Müllverbrennungsanlage.
Und die Zigeuner auf der Halde? »Kompliziert«, antwortete Herr Kapy und überlegte eine Weile. Dann redete er über die neue Freiheit und den Preis der Demokratisierung und sagte etwas unvermittelt: »Wissen Sie, die Roma gehen mal hierhin, mal dorthin. Dann kommen sie zu uns und wollen heiraten, wollen Kindergeld und Sozialhilfe. Aber sie haben keine Papiere. Keine Ausweise, keine Urkunden, nichts. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob sie überhaupt zu unserer Stadt gehören. Ohne Ausweise und Geburtsurkunden kann man ihnen nicht helfen. Und ich bin nicht dafür verantwortlich, wenn diese Leute keine Papiere haben.«
Von einer Existenz als rumänische Staatsbürger trennten Maria Lakatos und ihre Kinder nicht nur die fehlenden amtlichen Dokumente, von denen Maria behauptete, sie wären in dem Unglücksauto verbrannt. »Die Menschen von der Müllkippe leben außerhalb der Zivilisation. Sie sind im Grunde nicht existent«, sagte Uitz Gyöngyi, die Direktorin der Caritas-Polyklinik in Oradea. Von den 13 000 Patienten, die jährlich die medizinische Versorgungsstation aufsuchten, besaß über die Hälfte kein Geld. Doch alle wurden kostenlos versorgt. »Von den Tzigani
Weitere Kostenlose Bücher