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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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Zorn gegen mich. Sie warfen mir vor, nicht genügend Klamotten mitgebracht zu haben und einige Familien zu bevorzugen. Zuletzt flogen Hosen und Röcke, Hemden, Jacken und Babywäsche in den Dreck. Als ich in mein Auto flüchtete, warfen die Kinder mit Steinen. Ich brauste davon und nahm die ernüchternde Erkenntnis mit, dass die Roma von Episcopia Bihor mit Kleidern genauso umgingen wie mit sich selbst.
    »Wovon lebt der Mensch?«, fragt die Spelunken-Jenny in Bertolt Brechts Dreigroschenoper und erhält die sattsam bekannte Antwort, erst komme das Fressen, dann komme die Moral. Und der Gangster MacHeath singt:
    »Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich
    den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst.
    Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich
    vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.«
    Natürlich machten die Roma auf der Müllkippe die Erfahrung, gepeinigt, gewürgt und gefressen zu werden, so wie sie selber peinigten, würgten und fraßen. Sie waren Opfer und sie waren Täter, in wechselnden Rollen. Wobei sie jedoch unter sich blieben. Sie waren aus allen gesellschaftlichen Bezügen herausgefallen, vollkommen sich selbst überlassen lebten sie in einem asozialen Raum, der sich von allen anderen Räumen entkoppelt hatte. Die Existenz der Menschen in diesem anarchischen Raum der Verwilderung und Entwürdigung empörte niemanden, rührte an niemandes Mitgefühl und weckte nichts als kalte Gleichgültigkeit, sofern man menschliches Desinteresse überhaupt wecken kann. Im postsozialistischen Oradea der neuen Reichen und der immer gleichen Armen hatte der Kampf um die Selbstbehauptung die schärfste Waffe hervorgebracht, die der Mensch gegen den Menschen ins Feld führen kann: die Mitleidslosigkeit. Der Mangel an Empathie für die Zigeuner auf der Kippe ließ sich nur dadurch erklären, dass sie, so grausam das klingen mag, keinen Wert mehr besaßen. Für nichts und niemanden, nicht einmal für sich selbst. Sie waren nicht von Nutzen. Deshalb interessierten sich die von Mackie Messer beschworenen räuberischen Wolfsnaturen auch nicht für sie. Die Zigeuner im Müll hatten nichts mehr, was man ihnen nehmen konnte. Das unterschied sie von den Straßenkindern im Zentrum von Oradea, die zumindest noch ihre Körper besaßen, die sich ausbeuten und missbrauchen ließen.
    Eine Zeitlang begleitete ich Josi, Radu, Simona, Vendana und Zilindro, die sich mit anderen Roma-Kindern zu einer traurigen Überlebensgemeinschaft zusammengerauft hatten. Die Gruppe zählte ein Dutzend Jungen und Mädchen im Alter von acht bis siebzehn, verbunden allein durch dasselbe Schicksal, niemanden zu haben außer sich selbst. Tagsüber traf man die Kinder auf dem Platz vor dem McDonald’s im Einkaufszentrum Crisul oder auf den Bahnsteigen des Hauptbahnhofs, wo sie die Abfallkörbe durchwühlten, Zigarettenkippen aufklaubten und leere Flaschen sammelten. Nur blieben sie dabei nicht unter sich. Sie fielen unter die Räuber, unter die Wölfe, von denen der Leitwolf einen Namen hatte. Immer wieder fiel ein Name, an dem die Furcht klebte: Botero.
    Botero hieß einer der Streifenpolizisten, die in dem Revier um den Bahnhof Dienst taten. »Botero ist der schlimmste.« Das behaupteten alle Straßenkinder. Ausnahmslos. Zuerst dachte ich, er würde die »Copii de strada« vertreiben und ihnen verbieten Passanten um Geld anzubetteln. Doch genau das machte der Polizist nicht. »Botero will, dass wir betteln«, sagte der zwölfjährige Radu. »Und leere Flaschen und Blechdosen einsammeln sollen wir auch. Danach müssen wir ihm alles Geld abgeben. Botero kontrolliert sogar unsere Taschen.« Und wenn ihr das Geld für euch behaltet? »Dann schlägt er uns mit seinem Knüppel auf die Hände oder tritt uns mit dem Stiefel auf die Füße.« Und wer beschützt euch? Habt ihr keine Eltern? »Manche haben Eltern. Manche nur noch eine Mutter. Manche nichts. Aber das kommt auf dasselbe hinaus. Wir beschützen uns selbst.«
    Nachts zogen sich die Kinder unter die Straßenbrücke Podul Decebal zurück, wo sie sich am Ufer der Schnellen Kreisch ein Lager aus Pappkartons und verschlissenenWolldecken gebaut hatten. Hier schlief die achtjährige Rosi, die kaum sprach und von der die älteren Kinder erzählten, sie sei vor ihrem bösen Vater geflüchtet. Oder die zierliche Esther, deren Vater sich zu Tode getrunken hatte und deren Mutter ohne ein Wort des Abschieds von heute auf morgen verschwand. Oder Chery, die ihrer obdachlosen Mutter

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