Zigeuner
davongelaufen war, die andauernd in fremden Wohnungen bei fremden Männern schlief. Zwei der Halbwüchsigen, Simona und Vendana, hielt ich trotz ihrer Mädchennamen tagelang für Jungen. In ihrem Combat-Outfit bewegten sie sich wie unnahbare Ghetto-Krieger, die ständig auf den Boden spuckten und vor jeden Stein traten. Zudem hatten sie sich die Haare kurz geschnitten. Zu ihrem Schutz, wie sie erklärten. Ihr burschikoses Auftreten hatte einen simplen Grund: »Dann lassen uns nachts die Männer in Ruhe.«
Wie wenig vertraut mir die harten Gesetze der Straße waren, musste ich einsehen, als ich glaubte, einem Jungen eine Freude zu machen. Ich bewirkte das Gegenteil, weil ich den Brechtschen Satz der Rangfolge von Fressen und Moral nicht ernst genommen hatte. An einem heißen Septembernachmittag tauchten die jüngeren Roma-Jungen Josi, Radu und Zilindro aus der Straßenunterführung am Crisul Center auf. Josi war barfuß, humpelte und hatte Tränen in den Augen. »Botero«, schluchzte er, und seine Gefährten erzählten aufgebracht, der Polizist habe Josi mit dem Schuhabsatz auf die Zehen getreten. Und das »ganz ohne Grund«. Josi war ein schweigsamer Junge. Er sagte, er stamme aus dem Dorf Bradka, aber schon bei der Frage nach seinem Alter wirkte Josi überfordert. Er mochte acht, vielleicht aber auch schon zehn Jahre alt sein und hinkte in seiner Entwicklung den anderen Straßenkindern hinterher. Josi war mir schon in den ersten Tagen aufgefallen, weil er keine Schuhe besaß und seine Arme mit Narben übersät waren. Manche rührten von Schnittwunden her, andere mochten die Folge von Brandverletzungen sein. Woher sie stammten, konnte niemand erklären. Josi redete nicht darüber. Die anderen Straßenjungen waren sich sicher, dass Josis Narben aus der Zeit stammten, bevor er, vor wem auch immer, in die Stadt davonlief.
Josis linker Fuß war von Boteros Tritt angeschwollen, Verletzungen ließen sich jedoch nur schwer erkennen, da die Füße des Jungen vom Asphalt pechschwarz waren. Während Radu und Zilindro Coca-Cola und Cheeseburger holten, fiel mein Blick auf die Schaufensterfassaden des Crisul Shopping-Centers. Neben McDonald’s entdeckte ich den Eingang eines Geschäfts für Schuhe und Sportbekleidung. Ohne nachzudenken, fragte ich Josi, ob er gern Schuhe haben wolle. Er nickte. Wir betraten den Laden. Die jungen Verkäuferinnen waren nett, aber auch verunsichert. Josi war so schmutzig, dass sie sich zuerst weigerten, ihm Schuhe zur Anprobe zu zeigen. Nach einigem Zureden schließlich holten sie verschiedene Laufschuhe, doch der Junge hatte sich längst für das allererste Paar entschieden, für weiße Sportrunner. Die passende Größe wurde von allen Beteiligten geschätzt. Nach dem Bezahlen behielt Josi die Schuhe gleich an. Er strahlte vor Glück, und der Fußtritt Boteros geriet in Vergessenheit.
Am nächsten Morgen fand ich Josi auf einer Holzbank auf dem Bahnsteig der Zugstation. Er war wieder barfuß. Als er mich sah, weinte er. Er weinte wirklich bittere Tränen, Rotz und Wasser, und wollte sich nicht mehr beruhigen lassen. Radu setzte sich zu uns und meinte, noch am Nachmittag hätten die älteren Straßenjungen Josi die Schuhe weggenommen, um sie auf irgendeinem Markt einzutauschen gegen Geld.
KAPITEL 5
Im Sumpf des Hasses
Rassismus: Wenn Menschen zu Freiwild werden – Ein böser Gruß zum Namenstag – Tatarszentgyörgy: Als nachts die feigen Mörder kamen – Vier Serienkiller und die Saat der Angst – Der Nebel des Vertuschens – Pogrome in Rumänien: Es herrscht das Gesetz des Dschungels – Das Drama der Osternacht von Bolintin Deal – Versionen einer Tragödie – Recherchen unerwünscht: das jähe Ende einer Geburtstagsfeier
Erzsebets Freude über eine kitschbunte Postkarte beruhte auf einem Missverständnis und dem Umstand, Geschriebenes nicht lesen und Symbolisches nicht deuten zu können. Gemeinhin brachte der Briefträger nur selten Post in das letzte Haus in der Siedlung der Romungro-Zigeuner, dort, wo sich ein holpriger Feldweg im Unterholz eines Wäldchens verliert und nachts keine Straßenlaterne mehr Licht spendet. Obwohl die Adressangabe denkbar ungenau war, erreichte die Karte dennoch ihr Ziel: »Erzsebet Csorba, Tatarszentgyörgy, Hungary«. Näheres wusste der Absender offenbar nicht. Nur den Namen einer ungarischen Romni, wohnhaft sechzig Kilometer südlich von Budapest, in einer Ortschaft, die ihren Namen einer Kirche zu Ehren des heiligen Sankt Georg aus der Zeit der
Weitere Kostenlose Bücher