Zigeuner
zu ihrer zweiten Natur geworden.
»Oh weh mir auf ewig«, heißt es in einem Gedicht des serbischen Schriftstellers und Roma-Menschenrechtlers Rajko Djurić.
»Oh mein Vater,
Du ohne Grab,
Wir ohne Haus,
Dass wir vom Winde verweht werden
Und der Welt Müll sind.«
Vergisst man eine Weile, dass ausgerechnet die schwerreichen rumänischen Bulibaschen in prachtvollen Mausoleen ihre ewige Ruhe finden, so spricht aus Djurićs Versen nicht bloß pathetischer Jammer. Die schlichte Wahrheit dieser Zeilen begriff ich zu Beginn dieses Jahrtausends, als ich entdeckte, dass die Dritte Welt sechs Autostunden östlich von Wien begann, am Rande der Westkarpaten hinter der ungarischen Zollstation im rumänischen Oradea. Die 250 000-Einwohner-Grenzstadt schickte sich an, erfolgreich aus dem Schatten der sozialistischen Vergangenheit herauszutreten. Die ersten Fassaden des mittelalterlichen Stadtkerns erstrahlten in restauriertem Glanz, in der schmucken Einkaufszone flanierten Teenies auf Plateauschuhen, und in den Cafés signalisierte das pausenlose Gepiepe der Handys den Aufstieg neureicher Krawattenträger. Der freie Fall in den sozialen Abgrund fand ein paar Kilometer weiter nördlich statt: auf der städtischen Müllkippe im Stadtteil Episcopia Bihor.
In einem Sumpfgebiet, wo fauliges Wasser Blasen warf, lebten die »Schwarzen«. Hier, wo der Rauch kokelnden Abfalls zum Himmel stieg, hatte Mariusz Lakatos aufgehört, um sein Leben zu schreien. Der Junge winselte nur still vor sich hin und schlug in quälender Monotonie seinen Kopf hin und her. Immer wieder griffen seine dürren Ärmchen ins Leere. Denn da war niemand. Keine Brust, die ihn stillte; kein Arm, der ihn wiegte; keine Stimme, die ihn tröstete. Mit achtzehn Monaten sprach er keine einzige Silbe, er konnte nicht einmal krabbeln. Abgelegt zwischen Plastikplanen und ausrangierten Ölfässern kauerte Mariusz stundenlang auf einer stinkenden Decke. Fliegen umschwirrten sein Gesicht und klebten auf den schwärenden Wunden seiner rechten Hand. Die Fingerkuppen waren weggebrannt. »Das kommt von dem Auto, das Unglück gebracht hat«, klagte seine Mutter Maria und deutete auf einen ausgebrannten Dacia, der auf der Müllhalde vor sich hin rostete.
Das Schrottauto hatte Maria Lakatos und ihren Kindern als Schlafplatz gedient. Bis das Wrack eines Nachts aus unerfindlichen Gründen in Flammen stand. Drei ihrer Kinder hatte Maria unversehrt aus dem Feuer geholt. Die acht Monate alte Olivia lag noch immer mit schweren Brandverletzungen in der Kinderklinik von Oradea. Mariusz hatten die rumänischen Ärzte nach zwei Wochen im Spital mit einer Dose Milchpulver seiner Mutter zurückgegeben. Den völlig vernachlässigten Romeo brachten sie in ein Waisenheim. Die Mediziner hatten festgestellt: dem Kleinen fehlten die Zehen. »Aber das war nicht das Feuer«, sagte Maria. »Das waren die Ratten. Die fressen alles.«
Weil sie selbst in den ärmsten Roma-Vierteln Oradeas keinen Platz fanden, waren ganze Großfamilien teils schon in sozialistischer Zeit auf die Müllhalde gezogen. Andere wie die Oroszs, die Angels und die Lakatos waren später nachgekommen, weil sie arbeitslos und ohne einen Lei in der Tasche Miete, Strom und Essen nicht mehr bezahlen konnten. Nun lebten einhundertzwanzig Zigeuner mitten im Unrat. Die meisten von ihnen waren Kinder. Maria Lakatos war neun, als sie mit ihren Eltern und Geschwistern auf der Müllkippe strandete. Mit dreizehn brachte sie ihr erstes Kind zur Welt. Jetzt war sie zweiundzwanzig und sechsfache Mutter. Und der Vater? Maria zuckte mit den Schultern. »Abgehauen. Ich bin froh, dass er weg ist. Er hat immer nur geprügelt, weil der Vodka sein Gehirn kaputtgemacht hat.«
»Die Männer trinken, bis sie umkippen. Wir Frauen können das nicht. Wir müssen für die Kinder sorgen«, meinte Marias Schwester Hajni. Dann legte sie ihre zweimonatige Tochter Edina in einen zerschlissenen Sperrmüllkinderwagen und kramte einen Plastikbeutel voll Zigarettenkippen hervor. Die krümeligen Tabakreste drehten die Frauen in Zeitungspapier und rauchten. Ihre Kinder spielten derweil im Qualm des schwelenden Mülls oder hockten zwischen Bergen von Klebstoffeimern, die ein Unternehmer auf der Halde entsorgt hatte. Die eingetrockneten Leimreste kauten sie gegen den Hunger. »Das Essen reicht nicht für alle«, sagte Wilma, die ihr Alter auf ungefähr zwanzig schätzte und gerade mit ihrem siebten Kind schwanger ging. »Wir sind zu viele Leute hier, und es kommen immer
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