Zigeuner
mehr.«
Der Kampf um die täglichen Lebensmittel begann morgens um sieben. Sobald die ersten Müllwagen auf die Halde rollten, wühlten die Roma mit eisernen Schürhaken nach Essbarem. Weil es auf der Müllkippe kein Frischwasser gab, stillten sie ihren Durst mit angebrochenen Cola-Flaschen und halbleeren Getränkedosen. Kinder verschlangen angefaultes Obst und kratzten die letzten Marmeladenreste aus schmutzigen Gläsern, während die Frauen nach Gemüse und altem Brot stocherten. In einem aufgeschnittenen Blechkanister briet Wilma Lakatos für ihre Kinder ein paar Kartoffeln. Als Brennmaterial diente schwarz qualmender Kunststoff.
In meinem Roman Wie die Madonna auf den Mond kam habe ich mir bei der Beschreibung eines Zigeunerviertels in Bukarest eine literarische Freiheit erlaubt. Der fiktive Fotograf Fritz Hofmann sieht, wie Jugendliche mit stumpfen Messern Fleischstücke aus einem Kadaver säbeln, bei dem sich nicht mehr identifizieren ließ, ob er von einem Pferd oder von einer Kuh stammte. Als ich diese Szene ganz real in Episcopia Bihor beobachtete, kämpfte ich gegen die Übelkeit und den bestialischen Gestank an, der noch tagelang in meinen Kleider steckte, entgeistert darüber, was Menschen zu ertragen vermochten.
Als Journalist und Fotograf war ich ein Vierteljahrhundert lang oft im Auftrag katholischer Hilfswerke wie Adveniat, Misereor, dem Päpstlichen Kindermissionswerk oder Renovabis unterwegs. Ohne Anmaßung darf ich sagen, dass mir die Müllhalden in den Megastädten in Asien, Afrika und Lateinamerika überaus vertraut waren. Ich hatte die koptischen Müllsammler, die Zabbaleen, in Kairo fotografiert und mehrfach bei den Pepenadores recherchiert, die auf der vierzehn Kilometer langen und wohl größten Müllkippe der Welt am Stadtrand von Mexiko-City leben und arbeiten. In São Paulo begleitete ich die Catadores, die obdachlosen Papiersammler, und in der riesigen Müllstadt Payatas in Manila wohnte ich bei den Scavengern, den »Aasfressern«. Obschon die Müllhalden der Metropolen zu Recht als Stätten des Elends gelten, war keine von ihnen mit der Kippe in Oradea zu vergleichen.
Bei flüchtiger Betrachtung wirken alle Deponien chaotisch und unstrukturiert. Ihr Betrieb scheint anarchischen Mechanismen, aber keinen erkennbaren Regeln zu folgen. Erst peu à peu erschließen sich die Ordnungsprinzipien, die Hierarchien und Abhängigkeiten. Oft ist es von außen gänzlich unmöglich, die Macht- und Ohnmachtsverhältnisse beim Milliardengeschäft der Abfallentsorgung und des Wertstoffrecyclings zu durchschauen. Wer etwa darf Metall sammeln? Wer Glas oder Papier? Und wem bleiben nur die wertlosen Plastiktüten? Wer steht auf der Stufenleiter der Ausgestoßenen ganz unten, und wer hat das Recht, den Müll aus den Stadtvierteln der Reichen als Erstes zu durchwühlen? Wer kann dieses Recht vergeben? Wer kann es nehmen? Wer kauft auf, wer verkauft weiter, wer nimmt in Kommission, wer vermittelt, wer streicht Provisionen ein und verteilt Lizenzen? Wer schmiert die Behörden und wer kassiert die schwarzen Gelder? Nicht zu vergessen: Wer vergibt Vorschüsse und Kredite und fordert die Zinsen ein, für Lebensmittel und Satelliten- TV , für frisches Wasser und die Medikamente gegen all die Krankheiten, die man sich im Müll zwangsläufig einfängt? Gesund bleiben nur diejenigen, die sich nie die Hände schmutzig machen; die Bosse, bei denen alle Fäden zusammenlaufen und deren Namen auf der Halde nur ehrfürchtig geraunt werden, weil man ihre Gesichter niemals zu sehen bekommt.
Doch bestand ein fundamentaler Unterschied zwischen den Scavengern, die überall auf der Welt zu den Ärmsten und Geschmähten zählten, und den Tzigani in Oradea. Die Obdachlosen in São Paulo hatten sich mit Hilfe von Patres des Franziskanerordens gemeinschaftlich organisiert, um für ihr Papier faire Marktpreise zu erzielen. Die Payatas Scavenger Association hatte ein eigenes Spar- und Darlehnsprogramm gegründet, das Hunderten Familien ermöglichte, ein bescheidenes Häuschen nicht im Müll, sondern am Rand der Deponie zu bauen. In Mexiko reagierten die Müllarbeiter begeistert auf die »Stiftung zur Unterstützung von Bildung und Erziehung« des Jesuiten Roberto Rubio und schickten ihre Kinder in Vorschulen und in Ganztagskindergärten. Egal ob in Brasilien, in Ägypten oder auf den Philippinen, überall gab es so etwas wie eine Solidarität unter den Armen. Sie verfügten über den Willen, die Möglichkeiten zu nutzen, die einen
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