Zigeuner
Nacht ein Mann und kleiner Junge ermordet worden, und die örtliche Polizei versuche die ganze Geschichte zu vertuschen. »Ich war völlig geschockt und empört«, so Viktória Mohácsi, »denn es war bereits der fünfte oder sechste Mord an ungarischen Roma in kurzer Zeit, und ich fühlte nur noch Schmerz und Wut.« Sie sagte ihren Kongress ab. Zwei Stunden später traf sie mit ihrem Mann in Tatarszentgyörgy ein, wo sie vom Tod des siebenundzwanzigjährigen Róbert Csorba und seines fünfjährigen Sohnes Robika erfuhr. Die beiden waren nachts aus ihrem brennenden Wohnhaus gestürmt, zusammen mit der Ehefrau Renata sowie der siebenjährigen Bianca und dem kleinen Marte. Vor den Flammen war die Familie hinein in die Dunkelheit geflohen, genau dorthin, wo die Killer im Schutz des Unterholzes mit ihren Schrotgewehren lauerten.
»Ich wurde wach, weil ich Schüsse hörte«, erzählte Erzsebet Csorba. »Sofort stand ich auf und sah, wie gegenüber das Dach des Hauses unseres Sohnes Robby brannte. Zuerst dachte ich, es wäre bloß ein kleines Feuer, das sich löschen ließ. Deshalb lief ich mit meinem Mann um Robbys Haus herum, nach hinten zur Haustür auf der Waldseite. Doch aus der Tür schlug uns ein glühender Feuerstoß entgegen, weil drinnen schon alles voller Flammen war. Ich rief Robby beim Namen, doch er antwortete nicht.«
Während Róberts Ehefrau Renata, den kleinen Marte auf dem Arm, ihren Schmerz und ihre Verzweiflung in die Nacht hinausschrie, fand Robbys Bruder Richard seinen Neffen Robika. Eine volle Ladung Schrot hatte den Jungen ins Gesicht getroffen. Er starb in den nächsten Minuten. Seinen Sohn Róbert fand Csaba Csorba im Schatten des Feuers auf dem Bauch liegend, stöhnend vor Schmerz. Csaba trug ihn in das elterliche Haus, wo man bemerkte, dass Róbert aus drei Löchern in seinem T-Shirt blutete. Die siebenjährige Bianca hatten Kugeln in Schulter, Arm, Hüfte und Finger getroffen. Schwer verletzt würde sie den Mordanschlag überleben, doch wochenlang im Spital liegen. Als man nach Krankenwagen, Feuerwehr und Polizei rief, zeigte die Uhr Viertel nach eins. Dreißig Minuten später rückte die Brandwache an und löschte eine Ruine. Eine Viertelstunde nach dem Notruf trafen vier Polizeibeamte des Wachpostens im sechs Kilometer entfernten Orkeny ein. Unstrittig ist, dass die Polizisten alles daran setzen, den Eindruck zu erwecken, sie hätten nicht den Tatort eines Verbrechens betreten, sondern eine Unglücksstelle. Das Ganze sei ein Unfall, ein tragisches Unglück, sollen sie nach einhelligen Zeugenaussagen immer wieder betont haben. Das Feuer, so wollten sie glauben machen, sei von einem Kurzschluss durch einen defekten Heizstrahler ausgelöst worden, nicht etwa, wie sich später herausstellte, von brennenden Benzinflaschen. Die Blutflecke auf Róbert Csorbas T-Shirt erklärten sie mit Holzbalken und vorstehenden Nägeln, an denen er sich bei der Flucht vor den Flammen verletzt habe.
Da es nachts etwas geschneit hatte, waren die Bedingungen für die Spurensicherung ideal. Doch anstatt Beweise zu sammeln, sollen die Beamten auf umherliegende Patronenhülsen und auf die Abdrücke, die ein stürzender Attentäter im Schnee hinterlassen hatte, gepinkelt haben.
Aus welchen Gründen man auch in der Notaufnahme des Krankenhauses in Orkeny falsch reagierte, blieb unklar. Anstatt eine Rettungsambulanz mit Notarzt nach Tatarszentgyörgy zu entsenden, tauchte nach eineinhalb Stunden nur ein Sanitätswagen auf, dessen Personal mit der chaotischen Situation völlig überfordert war. Zwei Stunden später, noch bevor er in ein Krankenhaus eingeliefert wurde, war Róbert Csorba tot.
Nach ihrer Ankunft in Tatarszentgyörgy machte sich Viktória Mohácsi morgens zuerst ein Bild von den Geschehnissen vor Ort und fuhr dann zur Polizeistation nach Orkeny. Als die Beamten sich weigerten, die leeren Patronenhülsen als Beweismittel anzunehmen, nutzte die Romni die Möglichkeiten, die ihr der Status als Abgeordnete des Europäischen Parlaments bot. Sie setzte ihre Kontakte ein. Zuerst rief sie den ungarischen Polizeichef József Bencze persönlich an, dann sprach sie mit einem der bekanntesten Polizeibeamten in Ungarn, dem früheren Colonel und Lehrer an der Budapester Polizeischule Lajos Kovács.
»Er ist ein aufrichtiger Mann«, sagte Viktória Mohácsi, »ein sehr geschätzter Kriminalkommissar. Er gilt als der beste Ermittler im Land. Umso perplexer war ich, als er mir mittags am Telefon sagte, er habe schon von
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