Zigeuner
großes, schwarzes Auto« gesehen haben. Auch die Mitglieder der Familie Csorba in Tatarszentgyörgy erzählten die Geschichte von dem unheimlichen Geländewagen, der wenige Tage vor der Mordnacht im Februar 2009 nachts in der Gegend umherfuhr. Nun tauche der ominöse Wagen wieder auf, sagten die Csorbas, obwohl man die Mörder an Róbert und Robika längst gefasst hatte. »Manchmal hören wir das Auto fast jeden Abend, im Dunkeln, gegen neun und zehn. Wir hören, wie das Auto stoppt, hören Schritte von drei, vier Männern, die stumm bleiben und kein Wort sprechen. Wir trauen uns nicht, vor die Tür zu gehen. Dann machen wir im Haus das Licht aus. Irgendwann fahren sie wieder, doch bei uns bleibt diese Angst.«
Viktória Mohácsi glaubte nicht, dass die vier in Debrecen gefassten Serienkiller mit den Attentätern von Tatarszentgyörgy identisch waren. Nur von zweien der verhafteten Mörder wurde DNA -Material in Tatarszentgyörgy sichergestellt. Es sollen aber vier Täter gewesen sein. Erzsebet Csorba meinte sogar, dass es fünf waren, und ist sich sicher, dass die Mörder ihres Sohnes Róbert und ihres Enkels Robika keine zwanzig Kilometer von Tatarszentgyörgy wohnten und den Polizisten aus Orkeny bekannt sein müssten. Beweisen konnte Erzsebet Csorba diese Mutmaßung nicht. Doch weshalb sonst, fragte sich die Familie, hätten die Beamten versucht, in der Tatnacht alle Spuren zu verwischen.
Hier sollte, ja müsste ich eigentlich die Berichterstattung über die Ereignisse aus Tatarszentgyörgy beenden mit einem Verweis auf ausstehende Ermittlungen, hoffend, dass die Kriminologen eines Tages sämtliche Hintergründe der Tat aufklären werden. Ich wünschte, an dieser Stelle einen Schlusspunkt hinter das Kapitel Tatarszentgyörgy setzen zu können. Dann bliebe das grausame Attentat mit dem heimtückischen Vorsatz, am Rande eines Wäldchens in einer ungarischen Zigeunersiedlung eine ganze Familie auszulöschen, das, was es womöglich auch ist: ein hässliches Verbrechen von feigen rassistischen Mordbrennern an unschuldigen Opfern. Punkt! Schluss! Ohne Wenn und ohne Aber! Ich will nicht verschweigen, dass ich ein Bedürfnis nach solch einer abschließenden Erklärung verspüre. Vielleicht steckt dahinter das Verlangen nach einer klaren, unzweideutigen Position. Die Sehnsucht nach einer Wahrheit, die nie gefährdet ist, nach einem gesicherten Standort, der weiß, wo die Frontlinien verlaufen, zwischen Tätern und Opfern, zwischen Böse und Gut, zwischen Schwarz und Weiß. Ist ein solch kompromissloser Standpunkt nicht unverzichtbar? Angesichts einer Mordattacke von Rassisten, die in ihrem blindwütigem Hass nicht zögern, selbst einen kleinen Jungen hinzurichten? Verbietet solch eine abscheuliche Tat nicht von selbst das Benennen beunruhigender Zwischentöne in den Grauzonen der Spekulation? Gern würde ich »ja« antworten.
Wären da nicht diese Fragen, bliebe nach der bösen Geschichte nicht ein irritierendes Unbehagen. Ich werde den Eindruck nicht los, die Wahrheit hinter den sichtbaren Geschehnissen möglicherweise nicht einmal gestreift, geschweige denn getroffen zu haben. Was ich mit den ungezählten Reporterkollegen gemeinsam habe, die in Tatarszentgyörgy Interviews führten und Fotos knipsten. Ich zweifele nicht an den Schilderungen des Tathergangs durch die Familie Csorba. Und ich zweifele auch nicht daran, dass die örtliche Polizei alles daransetzte, den Doppelmord zu leugnen und zu vertuschen. Nur weshalb?
Sämtliche Medienberichte gehen davon aus, dass die vier gefassten Mörder Ortschaften für ihre Attentate aussuchten, in denen es in der Vergangenheit zu ethnischen Konflikten zwischen Roma und Gadsche gekommen war. Als unstrittig gilt, dass Rassenhass das Motiv der Täter gewesen ist. Demnach waren die Morde zwar geplant, die Wahl der Opfer jedoch ein Akt purer Willkür, eine Auswahl nach dem Prinzip des Zufalls, der jede andere Familie auch hätte treffen können. Zugegeben, manches spricht für eine »gezielte« Zufälligkeit. Etwa die einsame Lage des Hauses von Róbert Csorba am Rand einer Siedlung, die den Tätern eine schnelle Flucht in einen Wald erlaubte. Was aber, wenn Róbert Csorba und seine Familie nicht in das Visier von wahllos mordenden Zigeunerhassern geraten sind? Wenn ein Exempel statuiert wurde? Eine gezielte Exekution? Ein Akt der Selbstjustiz, zur Abschreckung?
Der einzige Journalist, der meines Wissens diese Möglichkeit erwog, war Georg Paul Hefty in der Frankfurter
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