Zigeuner
Dörfer publiziert wird, in denen mit Duldung der staatlichen Organe Lynchjustiz an Zigeunern verübt wurde, steht Bolintin stets ganz oben. In einem Bildband des Fotografen Joakim Eskildsen und der Autorin Cia Rinne, der wegen seiner beeindruckenden Fotografien in der Öffentlichkeit höchste Anerkennung fand, wird die Ortschaft Bolintin eher beiläufig genannt. Dafür trifft die Erwähnung die Bewohner allerdings mit vernichtender Wucht. Als Unterstützer für ihr Buch Die Romareisen hatten Rinne und Eskildsen den Literaturnobelpreisträger Günter Grass gewinnen können, der in einem Vorwort schrieb: »Die Roma sind wie kein anderes Volk, außer dem der Juden, anhaltender Verfolgung, Benachteiligung und Vernichtung ausgesetzt gewesen. Dieses Unrecht hält bis heute an.«
Für ein solches Unrecht standen irgendwann Ortsnamen wie Turu Lung, wo ein kleines Mädchen verbrannte, oder Kogălniceanu, wo über vierzig Häuser von Zigeunern zerstört wurden, ähnlich wie in Casinul Mare, in Valenii Lapuslui oder in Bolintin Deal. Leider kranken die Berichte über die Pogrome ernstlich daran, dass die meisten Berichterstatter sich nie die Mühe machen, die Fakten vor Ort zu überprüfen. Sie schreiben voneinander ab, was bisweilen zu absurden Verdrehungen der Geschehnisse führt. Einen vorläufigen Gipfel markiert Cia Rinne, die in den Romareisen zu Bolintin bemerkte, dass »der rassistische Pöbel von Roma bewohnte Häuser niederbrannte und mehrere Menschen ums Leben brachte«. Solche Bemerkungen glauben, mit wohlfeiler Pseudohumanität den Rassismus zu bekämpfen. Aber das tun sie nicht. Sie nähren ihn. Anstatt die abgründig dunklen Ursachen des kollektiven und individuellen Hasses zu durchleuchten, reicht ihnen der bloße Verweis auf den aufgeheizten Mob, um sich auf der moralisch korrekten Seite zu positionieren. Richtig ist, dass in Bolintin Häuser niedergebrannt und Roma vertrieben wurden. Entgegen der Behauptung von Frau Rinne wurde jedoch kein einziger Zigan ums Leben gebracht, wohl aber ein junger rumänischer Student ermordet.
Die Landschaft war öde. Keine Abwechslung, nichts, was das Auge erfreute, nur endlose Maisfelder, verdorrt, grau, staubig. Als ich mit meinem Dolmetscher Victor Sineac dreißig Kilometer westlich von Bukarest das Ortsschild Bolintin Deal passierte, hatte die Sonne über der Walachei ihren höchsten Punkt erreicht. In der brütenden Hitze stand die Luft. Der Asphalt klebte an unseren Schuhen, und die Straßen waren leergefegt an diesem Samstagmittag im Hochsommer 1991.
Eine bedrückende Ruhe lag über dem 8000-Einwohner-Städtchen Bolintin. Keine Menschenseele auf der Plaza, nur ein Gedenkstein. In einem guten Dutzend Einweckgläsern steckten frische Blumen, hinter Glas das Passfoto eines jungen Mannes. Auf einer schmiedeeisernen Inschrift war zu lesen: »Melinte, Cristian Constantin. Nascut 13. 06. 1969. Degedad 07. 04. 1991«.
Die Gedenkstätte erinnerte an ein hässliches Schauspiel, das als »Drama der Auferstehungsnacht« in der rumänischen Presse für Schlagzeilen sorgte. In der Nacht von Ostersamstag auf Sonntag starb der einundzwanzigjährige Student Cristian Melinte, ermordet von dem dreißigjährigen Jon Tudor. Laut Meldung der Zeitung Adevarul , deutsch »Wahrheit«, durchschnitt er seinem Opfer »mit einem Messer die Kehle«. Eine Tat, die den Schrei nach Rache weckte. Einen Schrei, der allzu offene Ohren fand. Denn Cristian Melinte war Rumäne. Das war auch Jon Tudor. Zugleich aber war er ein Ursari-Zigeuner.
Nur noch Ruinen zeugten davon, dass in den beiden Ortsteilen Bolintin Deal und Bolintin Vale einst Roma vom Stamm der Bärenführer lebten. Niedergerissene Häuserfassaden, ausgebrannte Wohnzimmer, eingestürzte Dachstühle erinnerten an jene Pogromnacht nach dem Mord an Melinte, in der in Bolintin all das Gift erbrochen wurde, das die Menschen in den Jahrzehnten des rumänischen Staatsterrors unter Ceauşescu geschluckt hatten. Misstrauen und Neid, dumpfer Hass, aber auch ohnmächtige und verzweifelte Wut lieferten den Stoff zu einer Tragödie, die in ebenso vielen Versionen erzählt wurde, wie es Beteiligte gab. Es waren Erzählungen, die hineinführten in ein Labyrinth aus Halbwahrheiten und Lügen, aus Furcht und Korruption. Erzählungen, deren Kern an Glaubwürdigkeit allein darin bestand, dass sie sich gegen die allzu billige Wahrheit sträubten, dass die einen immer nur Opfer, die anderen immer nur Täter sind.
Jon Bucur war ein reicher, für rumänische
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