Zigeuner
Verhältnisse sogar schwerreicher Mann. Als Oberhaupt der Ursari war er nicht nur der mächtigste Roma in Bolintin, er bewohnte standesgemäß auch das stattlichste Anwesen. Als Einziger der vertriebenen Zigeuner war Bucur mit einem Teil seiner Großfamilie nach dem Pogrom nach Bolintin zurückgekehrt. Sein zerstörtes Haus war unbewohnbar. Zehn Menschen drängten sich in dem Stall, in dem der Bulibascha ein Jahr zuvor noch Schweine mästete. Der 43-jährige erzählte:
»Natürlich hatte ich viel Geld. Schließlich habe ich allen hier Arbeit besorgt, auf dem Bau und in der Landwirtschaft. Seit Ostern ist das alles vorbei. Es begann abends in Bolintin Deal. Die jungen Männer hatten getrunken, zwei Studenten, ein Roma. Es gab Streit. Der Rumäne Melinte beleidigte den Roma, schlug ihm eine Flasche auf den Kopf. Das konnte er sich doch nicht gefallen lassen. In Notwehr zückte er sein Messer und stach zu. Ein Stich nur, durch die Brust ins Herz. Am nächsten Tag rückten die Rumänen an mit Hacken, Äxten und Knüppeln. Mit Traktoren und Ketten rissen sie unsere Häuser nieder, steckten sie in Brand. Hundert Polizisten kamen aus Bukarest. Sie schauten nur zu. Dann sind wir nach Bukarest geflohen. Mit vierzig Familien und vielen Kindern. Alle zu Fuß. Dort betteln unsere Leute auf den Straßen. Doch das Schlimmste steht uns noch bevor, wenn erst der Winter kommt. Wir haben nichts zu essen und nichts Warmes anzuziehen. Doch niemand hilft. Die Miliz? Die Polizei? Von denen ist nichts zu erwarten. Die haben doch nachts schon den Rumänen geholfen. Nur heute, da wissen sie von nichts.«
Mircea Obiala, der Bürgermeister von Bolintin Deal, sagte: »Sie müssen verstehen, wir sind einfache Leute, aber keine Rassisten. Nie hatten wir Ruhe. Das waren alles Diebe und Messerstecher. Sogar Gewehre hatten die. Das Gemüse haben sie uns aus den Gärten gestohlen, Fahrräder haben sie geklaut. In der Schule haben sie unseren Kindern das Brot weggenommen. Eine ganze Horde ist über eine junge Frau hergefallen. Alle haben sie vergewaltigt. Und dann noch der Mord. Sie müssen sich das so vorstellen. Nehmen Sie einen leeren Krug. Gießen Sie Wasser hinein. Immer mehr und immer mehr. Irgendwann wird er überlaufen. Verstehen Sie, wir wollten hier nichts als Ruhe und Frieden. Da mussten wir eine kleine Revolution machen.«
Florin Cioabă (seit 2007 Nachfolger seines Vaters Ioan als oberster König der rumänischen Kalderasch-Roma) war nach der rumänischen Revolution Chefredakteur der in Sibiu erscheinenden Roma-Zeitschrift Neo Drom, Neuer Weg, in der er schrieb:
»Es herrscht das Gesetz des Dschungels. Natürlich gibt es unter den Roma Kriminelle, und selbstverständlich müssen Täter bestraft werden. Nur wird dabei immer wieder die Justiz umgangen, und Unschuldige müssen dran glauben. Die vielen Fälle von Lynchjustiz machen uns allmählich Angst. Die Bevölkerung hat doch völlig freie Hand, gegen die Roma vorzugehen. Dabei hat das alte Regime auch unter den Rumänen Diebe, Hehler und Schläger hervorgebracht. Heute werden diese Machenschaften nur noch den Roma angelastet. Man braucht einen Sündenbock. Zuerst haben sich die Rumänen mit den Ungarn herumgeprügelt. Daran haben sie sich gesättigt. Der neue Feind, die neue nationale Gefahr sind heute die Zigeuner. Sicher hat uns der schreckliche Mord von Bolintin bestürzt. Doch dies war nicht der erste und wird auch nicht der letzte Mord sein.«
Dreißig Polizisten sorgten in Bolintin und den Nachbardörfern für Ruhe und Ordnung. In seiner Stube in der Polizeistation von Bolintin Vale redeten wir mit dem Beamten Vasile Lepadatescu, der sagte:
»Ich bin neutral. Aber ich muss Ihnen sagen: Die Ursari sind sehr gewalttätig. Der Mörder Tudor war betrunken und versuchte Melinte zu nötigen, ihn mit seinem Auto ins Nachbardorf zu einer Tanzveranstaltung zu fahren. Als der Junge sich weigerte, drohte der Täter zunächst, dem Beifahrer, dem Bruder Melintes, ein Ohr abzuschneiden. Als sich das Opfer in einem unbedachten Moment herumdrehte, stieß ihm der Ursari das Messer in den Rücken. Als später die Häuser brannten, kamen zehn, vielleicht fünfzehn Polizisten. Aber da waren die Zigeuner alle schon fort.«
Das weitere Gespräch mit dem Polizisten währte nur kurz.
Waren Sie in der Nacht dabei?
»Nein, ich hatte Urlaub.«
Und ihre Kollegen im Nebenzimmer?
»Die hatten auch Urlaub.«
Und die Beamten aus Bolintin Deal?
»Die wurden erst vor ein paar Wochen hierher
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