Zigeuner
ideologische Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas zu begreifen, das seinen Schatten in die Jetztzeit wirft. Gewisse Unappetitlichkeiten sind auf ein Minimum reduziert, zum Verständnis des Konfliktes aber nicht vollends zu vermeiden.
Auf den Vorwurf der Volksverhetzung antwortete Sabais dem Sinti-Verband, die Toleranzbereitschaft der Darmstädter Bürgerschaft sei nach dem schönen Sinti-Musikfest in der Folgezeit arg strapaziert worden. »Der Zustrom von Romani ohne Ausweispapiere hat uns vor große Probleme gestellt … Im Umkreis der Pfnorstraße wird in Kleingärten eingebrochen, wird Gemüse und Gerät mitgenommen, werden Bäume gefällt. Kinder werden zu aggressivem Betteln ausgeschickt. Trickdiebstähle sind versucht worden. Beschimpfungen von Passanten sind vorgekommen. Alte Leute wurden geschädigt. Von den angeblich aus Jugoslawien stammenden Romani, die sich illegal hier aufhalten, sind achtzehn Personen in den oft mehrfachen Verdacht von Straftaten geraten und beschäftigen die Polizei und die Gerichte.«
Romani Rose und Fritz Greußing von der Gesellschaft für bedrohte Völker entgegneten Wilfried Sabais daraufhin in einem offenen Brief:
»Wenn Sie Stellen für Sozialarbeiter, entsprechende Einrichtungen für Kinder- und Vorschulbetreuung sowie Berufsmöglichkeiten für die neu zugezogenen jugoslawischen Roma geschaffen hätten, bräuchten Sie Ihre überstrapazierte Toleranz dann nicht zu beklagen, wenn deren Kinder bedauerlicherweise wie andere deutsche Jugendliche unter solchen sozialen Verhältnissen benachbarte Schrebergärten verwüsten und durch Gemüse- und ähnliche Diebstähle zu einem Problem für die Polizei werden.«
Die Stadt hingegen beteuerte, das Arbeitsamt Darmstadt habe sich durchaus um Erwerbsmöglichkeiten für die Roma gekümmert. Ein junger Familienvater, dem man eine Stelle als Küchenhelfer in der Mensa der Universität verschafft hatte, sei jedoch nach zwei Tagen der Arbeitsstelle ferngeblieben. Sein Bruder nahm eine Beschäftigung auf dem Bau an, doch, so die Stadt: »Er hielt nur einen Tag durch.«
Bis 1984 hatte Darmstadt nach eigener Auflistung 1,6 Millionen Deutsche Mark aus öffentlichen Mitteln für die jugoslawischen Roma aufgebracht, für Sozialhilfe, für schulische und pädagogische Betreuungsmaßnahmen, vor allem für Wohnungs- und stete Renovierungskosten. Zudem zahlte das Arbeitsamt über 200 000 Mark an Kindergeld. Obwohl den Roma von den Behörden feste Häuser und Wohnungen beschafft wurden, erklärte das Darmstädter Echo im Sommer 1981: »Das Experiment der Zigeuner-Integration ist gescheitert.« Über die Situation in der Wormser Straße war zu lesen:
»Viele in unmittelbarer Nähe des Zigeunerhauses lebende Familien sind mit den Nerven fertig. Was sie in den vergangenen Monaten erlebt haben, beschreiben sie als Martyrium. … Die eigenen Kinder dürfen nicht mehr auf der Straße spielen, weil sie von den Zigeunerkindern aggressiv behandelt und unflätig angepöbelt würden. Die immer wiederkehrenden Zitate lauten ›Du Schwein, du Hitler‹ oder auch ›Hallo, komm rüber, ich dich ficken‹ … So hätten die Zigeuner wiederholt Gänse, Hühner und Schweine geschlachtet und das Blut eimerweise in den Garten und in die Mülltonnen gekippt. Wochenlang lagen Abfallberge im Garten. Schwärme von Schmeißfliegen rund um das Grundstück sind die Folgen … Klagen werden auch darüber geführt, dass die Zigeuner schon früh am Tag mit dem Trinken beginnen und mit zunehmendem Rausch lauter und aggressiver würden. Heftige Familienstreitigkeiten, Prügelszenen und alkoholisierte Kinder gingen mit dem Genuss von Bier und Rotwein einher. Flaschen, Knochen und Lumpen landeten in Nachbargrundstücken und irritierten und schockierten die ordentliche Bürgerlichkeit.«
Glaubt man Günther Metzger, dem Nachfolger von Oberbürgermeister Sabais, so eskalierte die Wohnsituation nach diversen Umzügen der Roma etwa in die Gräfenhauser und Arheilger Straße immer weiter. Als im August 1983 einige Familien Darmstadt verlassen hatten, ordnete Metzger in dem Glauben, sie würden nicht zurückkehren, den Abriss eines Hauses in der Arheilger Straße an, was den Sturm der Entrüstung und die besagte Anzeige in der Zeit nach sich zog. Günther Metzger rechtfertigte den Abriss laut Protokoll einer Stadtratssitzung wie folgt:
»Zurückgelassen wurden Unrat, Dreck und Ungeziefer, in der Gräfenhauser Straße halbverweste Tiere. Die Tierkadaver verbreiteten einen
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