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Zigeuner

Zigeuner

Titel: Zigeuner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bauerdick Rolf
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was sie sahen und wahrnahmen. Diese Furcht wirft Fragen auf. Worin hat sie ihren Grund? Woraus speist sich ihre Macht? Und wer besitzt die Mittel, diese lähmende Furcht auf den Plan zu rufen?
    Im Juni 1984 publizierte die Wochenzeitung Die Zeit eine ganzseitige Anzeige, wie sie wohl nie zuvor in der Bundesrepublik aufgegeben wurde. Von ihrem optischen Erscheinungsbild her wirkte sie wie Patchwork, wie eine Kollage aus Zitaten, Kurzmeldungen, Brieffragmenten, Beschwerden und Appellen. Um die hohen fünfstelligen Kosten für die Zeit -Annonce zu decken, war unten auf der Seite ein Spendenaufruf abgedruckt, für Überweisungen auf das »Humanitäre Konto« der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Göttingen hatte das Inserat lanciert, gemeinsam mit dem Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Die Anzeige unter dem Motto »Abreißen – umsiedeln – abschieben« richtete sich gezielt gegen eine Person. Gegen einen Bürgermeister.
    »Darmstadts Roma-Familien wurden durch SPD -Oberbürgermeister Günther Metzger vertrieben.« So lautete die Schlagzeile.
    Wer bislang noch nicht von Günther Metzger gehört hatte, dem wurde der hessische Politiker mit einem Schlag bekannt. Mit ihm hatte der hässliche Deutsche wieder einen Namen. Günther Metzger biete »das seit 1945 schlimmste Beispiel für Rassismus in einer deutschen Stadt«, schrieben Romani Rose und Tilman Zülch. Letzterer im Namen der Gesellschaft für bedrohte Völker. »Fassungslos« wandten sie sich in einem offenen Appell in der Zeit an den damaligen SPD -Parteivorsitzenden Willy Brandt und warnten, der Fall Darmstadt dürfe »nicht als Negativbeispiel für sozialdemokratische Ausländer- und Minderheitenpolitik in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen.« Flankiert wurde der Aufruf mit Zitaten aus Briefen und Telegrammen, die Personen des öffentlichen Lebens an Metzger geschickt hatten. Romani Rose hatte ungezählte Prominente aus Politik und Kirche, Kultur und Geistesleben, allesamt Persönlichkeiten mit höchster moralischer Reputation, aus der Perspektive des Zentralrats über die Darmstädter Ereignisse informiert und einen Tsunami der Entrüstung ausgelöst. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der Lyriker Erich Fried, der ehrenwerte Berliner Pastor Heinrich Albertz und Heinz Galinski von der Jüdischen Gemeinde Berlin, sie alle bekundeten gegenüber Günther Metzger ihre Empörung, ihr blankes Entsetzen und ihre Abscheu. Die Zeit -Anzeige ließ keinen Zweifel aufkommen, mit dem Darmstädter Oberbürgermeister waren die faschistischen Methoden der Gestapo zurückgekehrt. Antisemitische Zitate, aus dem nationalsozialistischen Hetzblatt Der Stürmer zum Vergleich herangezogen, schienen zu belegen: Günther Metzger war mit vier jugoslawischen Roma-Familien genauso barbarisch und widerwärtig verfahren wie einst die Nazis mit den Juden. Im August 1983 hatte er in Darmstadts Arheilger Straße ein Haus samt Kupferwerkstatt niederreißen lassen, während die Bewohner verreist waren. Außerdem hatte Metzger die Ausweisung einer siebenköpfigen Familie angeordnet. Ein rechtswidriger Akt, wie das Darmstädter Verwaltungsgericht befand. Der Oberbürgermeister hatte sich bei der Abschiebung darauf berufen, dass gegen den Familienvater unter dreizehn Aktenzeichen strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig waren, von denen allerdings nur das Autofahren ohne Führerschein und ohne Versicherungsschutz von der Justiz als ausländerrechtlich relevant eingestuft wurden.
    Heinrich Böll schrieb daraufhin an Günther Metzger: »Dieser Akt der Vernichtung und Vertreibung, der offenbar vom Rat ihrer Stadt genehmigt war, macht alle Erinnerungen an Verfolgung, Rassismus, an Untermenschen-Politik und menschenverachtende Maßnahmen lebendig.« Der Zukunftsforscher Robert Jungk bat Metzger, sich von den »Nazitaten« zu distanzieren und »Wiedergutmachung zu leisten«. Der evangelische Theologieprofessor Helmut Gollwitzer erwartete im Namen aller »Hitlergegner« ein »klares Schuldgeständnis«. Und Simon Wiesenthal, der verdienstvolle Leiter des Dokumentationsarchivs des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes in Wien, beteuerte »sprachlos« zu sein, bekundete dann aber wortmächtig, die Darmstädter Vorkommnisse »im Zentrum Europas« würden in erschreckender Weise die Gefahr signalisieren, »dass Millionen Unschuldiger umsonst gestorben sind«.
    Gegen die moralische Wucht der Anklagen nahm sich die Stimme des

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