Zigeuner
Sozialdemokraten Metzger eher nüchtern aus: »Die jugoslawischen Roma-Familien kamen ungebeten nach Darmstadt. Gleichwohl wurden sie von der Stadt als Gäste aufgenommen. Sie haben das Gastrecht ständig missbraucht. Nur deshalb hat ihnen die Stadt Darmstadt das Gastrecht entzogen.«
Die Vorgeschichte der Ereignisse, wie sie die Stadt Darmstadt selbst dokumentiert hat, datiert aus dem Oktober 1979. Metzgers Vorgänger im Bürgermeisteramt, Winfried Sabais, hatte anlässlich des gelungenen Darmstädter »Musikfests der Zigeuner« eine Einladung ausgesprochen, die unvorhergesehene Folgen zeitigte. Vor dem Hintergrund der demütigenden Erfahrung, dass den Sinti oft verwehrt wurde, mit ihren Caravans auf öffentlichen Campingplätzen zu logieren, hatte Sabais versprochen, in Darmstadt für durchreisende Zigeuner einen festen Standplatz einzurichten. »Wenn Sie wieder in diese Stadt kommen, wird Sie kein Gendarm an der Stadtgrenze abweisen«, hatte er vor deutschen Sinti erklärt. »Sie sind uns herzlich willkommen, nicht nur heute, sondern immer.«
Vier Wochen später tauchten die ersten Zigeunerfamilien mit ihren Kindern in Darmstadt auf, keine virtuosen Sinti-Musiker, sondern Roma, die aus Südeuropa stammten. Sie traten an das Sozialamt heran, gaben an, obdachlos und mittellos zu sein und zudem keine Personalpapiere zu besitzen, was sich im Nachhinein indes als falsch herausstellte. Die Ankömmlinge besaßen jugoslawische Pässe. Drei Tage nach ihrer Ankunft kaufte die Stadt für 13 000 Mark zwei Wohnwagen, die Familien erhielten Sozialhilfe und Heizöl zum Überwintern. Im Februar 1980 siedelten sich weitere sechs Familien an, für die die Sozialbehörde Wohnwagen und Wohnungen beschaffte. Im Frühjahr 1980 hielten sich bis zu einhundertfünfzig jugoslawische Roma in Darmstadt auf, und Romani Rose schrieb seinen bereits erwähnten Brief an Oberbürgermeister Sabais. Der Tonfall des Schreibens war ausnehmend gewogen, touchierte gar die Grenze zur Anbiederei. Romani Rose, vom Vorstand des damals noch existierenden Verbands deutscher Sinti, lobte, wie vorbildlich die Stadt begonnen habe, sich gegen die Diskriminierung der Sinti zu wenden, und bekundete, weiterhin Wert auf das gute Verhältnis zu legen. Zugleich warnte Rose den Oberbürgermeister mit »umso größerer Bestürzung« vor eben jenen jugoslawischen Roma, die ihre eigene Ethnie mit dem Versprechen abzockten, ihnen in Darmstadt politisches Asyl zu besorgen. Rose sagte Winfried Sabais zu, seitens seines Verbands »alles zu tun, damit der gute Wille der Stadt Darmstadt nicht auf so eine Weise länger missbraucht wird«.
Keine drei Monate später war der Ton ein anderer. Er verschärfte sich in der Folgezeit so drastisch, dass er später die Gerichte beschäftigte. Auslöser war ein Report der Polizeibehörden. Es ging darin um Zigeunerkinder, die laut Darmstädter Echo, »in Nachbarstädten bei Straftaten ertappt und von der Polizei zu ihren auf Darmstädter Standplätzen lebenden Eltern zurückgebracht worden waren«. Zudem hatte ein Polizeisprecher in der Presse den Verdacht geäußert, einige Kinder würden von ihren Eltern bewusst ausgeschickt, um Einbrüche und Eigentumsdelikte zu begehen. Roses Sinti-Verband warf der Stadt und der Polizei daraufhin gezielte Volksverhetzung und Diffamierung einer ganzen Minoritätengruppe vor.
Oberbürgermeister Wilfried Sabais, wie auch später sein Nachfolger Günther Metzger, verwahrten sich gegen die Anschuldigungen und riefen damit eine energische Gegenreaktion Romani Roses hervor, die sich auch in Wortwahl und Sprachstil niederschlug. Auch wenn es gewagt ist, einer Ethnie kollektive Eigenschaften zuzuschreiben oder abzusprechen, so würde ich doch behaupten, dass den Sinti und Roma zynische Arroganz eher fremd ist. Nun mag der Politologenjargon, der Roses Schreiben plötzlich prägte, damit zu erklären sein, dass der Sinto fortan im Verbund mit der Gesellschaft für bedrohte Völker auftrat. Jedenfalls erweckte der eloquente, äußerst sarkastische Ton der Briefe den Eindruck, als habe der Verfasser im Schnellverfahren ein Soziologiestudium absolviert. Wie auch immer, der Darmstädter Streit eskalierte ins Maßlose. Ihn zu dokumentieren würde Bibliotheken füllen. Ein Einblick in die argumentativen Strategien, mit denen ein bis dato aufrechter Sozialdemokrat zum übelsten Rassisten der deutschen Nachkriegsgeschichte avancierte, sei hier dennoch gestattet. Weniger um der Historie willen. Vielmehr um jene
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