Zigeuner
können wir den Zigeunern nicht verzeihen, dass sie uns das »Dritte Reich« vergeben haben. Oder unpathetischer formuliert, dass es sie schlichtweg nicht interessiert, wie deutsche Gadsche ihre Schuldgeschichte bewältigen. Das akzeptieren wir nicht. Deshalb glauben wir lieber jenen Funktionären, die so denken und so fühlen wie wir.
KAPITEL 9
Der Aufstand des Anstands
Offene Worte – »Aber zitieren Sie mich nicht!« – Roma in Darmstadt und eine Annonce in der »Zeit« – Wie ein sozialdemokratischer Bürgermeister zum schlimmsten Rassisten nach 1945 avancierte – Der Abriss eines Hauses und ein Tsunami der Empörung – Wenn Politiker ins Schweigen flüchten – Aufruf zum Pogrom?
Vor wenigen Jahren führten zwei hochangesehene Männer ein Gespräch, das in der Zeitschrift des Romano Centro in Wien abgedruckt wurde. Der österreichische Sprachwissenschaftler, Romanilehrer und Kenner ziganer Kultur Mozes Heinschink interviewte den nicht minder welterfahrenen und belesenen russischen Rom Lev Tcherenkov. Dabei stellte der siebzigjährige Heinschink die schlichte Frage: »Was haben die Roma in Russland für Probleme?«
Ich zitiere die Antwort nicht, um jugendliche Roma zu diffamieren, sondern weil die Redlichkeit und Wahrhaftigkeit der Gesprächspartner sich wohltuend von dem politisch korrekten Habitus abhebt, von dem Umberto Eco meint, er kaschiere ungelöste soziale Schwierigkeiten lediglich durch einen höflicheren Sprachgebrauch.
»Ehrlich gesagt«, antwortete Tcherenkov, »es gibt ein großes Problem unter den Roma in Russland, um nicht schönzufärben, was eine dunkle Angelegenheit ist: Ein großes Problem ist der Drogenhandel. Das bedeutet nicht, dass jeder Rom mit Drogen handelt. Keineswegs! Aber doch viele. Der Prozentsatz unter den Roma ist höher, verglichen mit jenem der Gadsche. Nur die Kêldêrarja handeln nicht mit Drogen. Und zwar deshalb, weil ein weises Oberhaupt kategorisch erklärte: Roma, wenn ihr euch auf diese Sache einlasst, so bedeutet das, dass ihr unrein, mahrime werdet. Ihr befleckt euch! Wir wollen nicht unrein werden und von Geld leben, das mit dem Unglück anderer verdient wird. So sagte er, und kein Rom der Kêldêrarja, wie arm er auch immer sein mag, lässt sich auf Drogenhandel ein.«
»Dunkle Angelegenheiten« anzusprechen ist auch in Deutschland möglich. Vorzugsweise hinter verschlossenen Türen. Nahezu ausgeschlossen ist es, aufrichtige Worte wie die eines Lev Tcherenkov öffentlich in einer Atmosphäre des Wohlwollens zu diskutieren, in dem Bemühen, gemeinsam Lösungen für eine soziale Schwierigkeit zu finden. Stattdessen würde sofort Anklage erhoben, wobei die Ankläger die effiziente Doppelstrategie fahren, man kriminalisiere erstens eine Minderheit und arbeite zweitens dem braunen Sumpf zu. Bei Recherchen zu diesem Buch suchte ich Gespräche mit lokalen Politikern und Verwaltungsbeamten, mit Angestellten der Sozialämter und Mitarbeitern karitativer Dienste, die in ihrem beruflichen Alltag mit zugewanderten Roma aus Südosteuropa zu tun hatten. Sie alle sprachen bereitwillig über ihre Frustrationen. Aber meistens nur, wenn das Aufnahmegerät ausgeschaltet war. Auch Kriminalbeamte waren ab und an gewillt, ihre deprimierenden Erfahrungen in Andeutungen mitzuteilen. Kaum jemand war jedoch bereit, für seine Ansichten mit seinem Namen einzustehen. Dieselbe Erfahrung machten auch die Kollegen des illustrierten Magazins Stern. Bei ihren Recherchen über den Alltag rumänischer Roma in Berlin gelangen der Autorin Franziska Reich und dem Fotografen Daniel Rosenthal ebenso erhellende wie erschreckende Einblicke in die sozialen Mechanismen einer »verschlossenen Welt«. Auf eine Mauer aus Ablehnung, Schweigen und Misstrauen trafen die Reporter nicht nur bei den Roma, sondern mehr noch bei Behörden, Polizei, Lehrern oder Nachbarn. Sie alle, das teilte die Chefredaktion des Stern im Editorial den Lesern mit, »fürchteten die öffentliche Darstellung der Schwierigkeiten, die es mit den Roma gibt, weil dann schnell der Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit im Raum stehe«.
Ich weiß nicht, wie oft ich von meinen Gesprächspartnern den Satz gehört habe: »Aber zitieren Sie mich nicht.« Niemals übrigens von Zigeunern. Immer von gestandenen Männern und Frauen, die gemeinhin in ihrem Job in der Lage waren, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was sie dachten und für richtig befanden. Wenn es jedoch um die Roma ging, verließ sie der Mut, ohne Scheu auszusprechen,
Weitere Kostenlose Bücher