Zikadenkönigin
Platz zu nehmen, wo er sich auf einem zerkratzten, alten Bildschirm mit Videospielen die Zeit vertreiben konnte.
Flores versorgte einen nie abreißenden Strom von lahmen, behinderten, kranken und hinfälligen Menschen. Die Belizaner schienen von der Kuppel eingeschüchtert und bewegten sich nur zögernd, als hätten sie Angst, die Wände oder den Fußboden zu zerbrechen. Der Spitzel fand sie äußerst interessant. Er studierte ihre Krankheiten mit analytischem Blick – überwiegend Hautkrankheiten, fiebrige Infektionen und Parasiten, dazwischen einige entzündete Wunden und Brüche. Er hatte noch nie so kranke Menschen gesehen. Er versuchte, sie mit seinem Können bei den Videospielen zu begeistern, aber sie murmelten lieber untereinander in einem verballhornten Englisch oder kauerten schaudernd im Zug der Klimaanlage.
Endlich wurde der Spitzel zum Doktor vorgelassen. Flores war ein kleiner, angekahlter Hispanier, der den üblichen weißen Arbeitskittel eines Arztes trug. Er betrachtete den Spitzel von oben bis unten. »Oh«, sagte er. »Ihre Krankheit, junger Mann, habe ich schon öfter gesehen. Sie wollen reisen. Ins Landesinnere.«
»Ja«, sagte der Spitzel. »Nach Tikal.«
»Setzen Sie sich.« Sie setzten sich. Hinter Flores tickte und blinkte ein Kernspintomograph vor sich hin. »Lassen Sie mich raten«, sagte der Arzt, während er die Fingerspitzen aneinanderlegte. »Die Welt kommt Ihnen wie eine Sackgasse vor, junger Mann. Sie haben den Universitätsabschluß oder die Aufnahmeprüfung bei den Zaibatsu nicht geschafft. Und Sie können den Gedanken nicht ertragen, Ihr Leben damit zu vergeuden, eine Welt aufzuräumen, die von Ihren Vorfahren ruiniert wurde. Sie fürchten sich vor einem Leben unter dem Daumen großer Kartelle und Firmen, die Ihre Seele aushungern, um die eigenen Taschen zu füllen. Sie sehnen sich nach einem einfacheren Leben. Nach einem Leben des Geistes.«
»Ja, Sir.«
»Ich habe hier die nötigen Einrichtungen, um Ihre Haar- und Hautfarbe zu verändern. Ich kann sogar dafür sorgen, daß Sie die Vorräte bekommen, mit denen Sie eine vernünftige Chance haben, im Dschungel zu überleben. Haben Sie Geld?«
»Ja, Sir. Bei der Bank von Zürich.« Der Spitzel zog eine elektronische Kontokarte hervor.
Flores schob die Karte in einen Schlitz in seinem Schreibtisch, las den Ausdruck und nickte. »Ich will Ihnen nichts vormachen, junger Mann. Das Leben bei den Maya ist hart, besonders am Anfang. Man wird Sie brechen und genauso wieder zusammensetzen, wie man Sie haben will. Dies ist ein geschlagenes Land. Im letzten Jahrhundert fiel dieses Gebiet den Predator Saints in die Hände. Einige Krankheiten, die von den Predators hier losgelassen wurden, sind noch in Umlauf. Die Resurgence hat den Fanatismus der Predators geerbt. Auch sie sind Mörder.«
Der Spitzel zuckte die Achseln. »Ich habe keine Angst.«
»Ich hasse dieses Morden«, sagte der Doktor. »Trotzdem, die Maya gehen wenigstens offen vor, während das profitorientierte Vorgehen der Synthesis die ganze Bevölkerung hier zu Beutetieren gemacht hat. Die Synthesis gewährt mir keine Mittel, um das Leben von angeblich nicht überlebensfähigen Genlinien zu verlängern. Deshalb kompromittiere ich meine Ehre und akzeptiere das Geld der Deserteure von Synthesis und finanziere meine Wohltaten mit Verrat. Ich bin von Geburt Mexikaner, aber meinen Beruf habe ich auf einer Replicon-Universität gelernt.«
Der Spitzel war überrascht. Er hätte nicht gedacht, daß es noch so etwas wie »Mexiko« gab. Er fragte sich, wem die Regierung gehörte.
Die Vorbereitungen dauerten acht Tage. Unter Flores' fachkundiger Anleitung färbten die Maschinen der Klinik die Haut und die Augen des Spitzels um und arbeiteten die Falten um seine Augen auf. Er wurde gegen die klassischen und künstlich eingeführten Spielarten von Malaria, Typhus und Gelb- und Dengue-Fieber geimpft. Neue Bakterienkulturen wurden in seine Därme gesetzt, um dem Durchfall entgegenzuwirken, und er bekam Mittel gegen allergische Reaktionen auf die unvermeidlichen Bisse von Zecken, Flöhen, Milben und – am schlimmsten von allen – Goldfliegenlarven.
Als der Augenblick gekommen war, sich vom Arzt zu verabschieden, war der Spitzel den Tränen nahe. Er wischte sich die Augen aus und drückte dabei den Handballen fest gegen den linken Wangenknochen. Es klickte in seinem Kopf, und die linke Kieferhöhle entleerte sich. Vorsichtig und unauffällig fing er die auslaufende Flüssigkeit
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