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Zikadenkönigin

Zikadenkönigin

Titel: Zikadenkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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mit seinem Taschentuch auf. Als er dem Arzt zum Abschied die Hand gab, preßte er das feuchte Tuch auf das nackte Handgelenk des Arztes. Er ließ das Taschentuch auf Flores' Schreibtisch liegen. Als der Spitzel mit seinen Maultieren an den Maisfeldern vorbeigezogen war und in den Dschungel eindrang, begannen die schizophrenieerzeugenden Gifte zu wirken, und das Bewußtsein des Arztes zerbrach wie eine fallengelassene Vase.
    Der Dschungel in den Niederungen von Guatemala war kein schöner Ort für einen Orbiter. Es war ein weiter, unheimlicher Morast voller wildgewordener Pflanzen, die schon lange wußten, was Menschen waren. Im zwölften Jahrhundert war die ganze Gegend für die bewässerten Maisfelder der Maya abgebrannt worden. Im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert war sie der finsteren Logik von Bulldozern, Flammenwerfern, Entlaubungsmitteln und Pestiziden ausgesetzt worden. Und jedes Mal war sie nach dem Tode der Unterdrücker zurückgekommen, häßlicher und verbissener als je zuvor. Einst hatten die Pfade von Holzfällern und Kautschuksuchern, die nach ergiebigen Mahagoni- und Kautschukbäumen suchten, den Wald durchzogen. Jetzt gab es diese Pfade nicht mehr, weil es keine Bäume mehr gab.
    Dies war kein ursprünglicher Wald. Es war ein menschlicher Artefakt wie die genetisch veränderten Kohlendioxidschlucker, die in gewaltigen Reihen in allen synthetischen Wäldern Europas und Nordamerikas standen. Diese Bäume waren die Staubsauger einer ökologisch wahnsinnigen Gesellschaft: Dornen, Mesquite, Kohlpalmen, Lianen. Die Pflanzen hatten ganze Städte verschluckt und stellenweise sogar komplette Ölraffinerien. Angeschwollene Populationen von Papageien und Affen, denen die natürlichen Feinde fehlten, raubten jedem Eindringling den Schlaf.
    Der Spitzel überprüfte mit Hilfe der Satelliten ständig seine Position; es bestand keine Gefahr, sich zu verirren. Und es machte keinen Spaß. Den aufmüpfigen Menschenfreund zu erledigen, war zu leicht gewesen, um Spaß zu machen. Sein Ziel war die Hazienda des amerikanischen Neureichen John Augustus Owens, die jetzt den führenden Köpfen der Maya als Zentrale diente.
    Die mit Fresken verzierten Spitzen der Pyramiden von Tikal waren über die Baumwipfel hinweg schon aus dreißig Meilen Entfernung zu sehen. Der Spitzel erkannte die Anlage der Resurgence-Stadt nach den Satellitenfotos. Er wanderte bis zum Einbruch der Dunkelheit und verbrachte die Nacht in der verfallenen Kirche eines überwucherten Dorfes. Am Morgen tötete er seine beiden Maultiere und ging zu Fuß weiter.
    Der Dschungel außerhalb von Tikal war voller Jagdpfade. Eine Meile vor der Stadt wurde der Spitzel von zwei Wachposten aufgegriffen, die mit obsidianbesetzten Keulen und hochmodernen Automatikgewehren bewaffnet waren.
    Seine Wächter waren zu groß, um echte Maya zu sein. Vermutlich Rekruten von draußen und keine eingeborenen gualtemaltekischen Indianer, die wahrscheinlich den Hauptteil der Bevölkerung bildeten. Sie sprachen nur Maya, in das sich verzerrte spanische Brocken mischten. Mit Hilfe seines Computers nahm der Spitzel sofort die Sprache auf, während er sich auf englisch beklagte. Der Schleier brachte ein Talent für Sprachen mit sich. Er hatte bereits über ein Dutzend gelernt und wieder vergessen.
    Seine Arme wurden hinter dem Rücken gefesselt, und er wurde nach Waffen durchsucht, aber sonst nicht verletzt. Seine Bewacher marschierten durch einen Vorort mit strohgedeckten Häusern, Maisfeldern und kleinen Gärten. Truthähne kratzten und kollerten im Unterholz. Am Fuße einer Nebenpyramide wurde er ins prächtige, holzvertäfelte Büro eines Theokraten geschoben.
    Dort wurde er von einem Priester verhört, der eine Krone und einen Lippenstecker aus Jade beiseitelegte, um die einem Bürokraten geziemende Farblosigkeit anzunehmen. Der Priester sprach ein ausgezeichnetes Englisch, und sein Betragen zeigte jene Distanziertheit und beiläufige Andeutung absoluter Macht, die nur aus langer Vertrautheit mit großen industriellen Machtstrukturen entsteht. Es fiel dem Spitzel nicht schwer, ihm die erwarteten Antworten vorzuspielen. Er hatte schon halb gewonnen, als er sich als Deserteur von Synthesis vorstellte, der nach den sogenannten ›menschlichen Werten‹ suchte, die von der Synthesis und den Zaibatsu als überholt betrachtet wurden.
    Er wurde die Kalksteinstufen der Pyramide hinaufgeführt und knapp unter der Spitze in einer kleinen, aber luftigen Steinzelle eingesperrt. Man

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