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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Hand den Fels befühlte, bemerkte sie Unebenheiten, kleine, schmale Vertiefungen. Es waren Buchstaben, die jemand in den Stein graviert hatte – sie ertastete ein t und daneben ein o …
    „Quod si oculus tuus dexter scandalizat te erue eum et proice abs te expedit enim tibi ut pereat unum membrorum tuorum quam totum corpus tuum mittatur in gehennam“, rezitierte der Mönch, und sie nahm an, dass er die gesamte Inschrift vorlas.
    MEIN LATEIN REICHT DAFÜR NICHT, gestand Melanie.
    Der Verhüllte übersetzte: „Wenn dir aber dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, dass eines deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle fahre. Aus dem Matthäus-Evangelium.“
    Sie kannte das Zitat natürlich, musste aber zugeben, dass es in einer Liste ihrer Lieblingsbibelstellen wohl kaum unter die ersten tausend gekommen wäre. Der Nachklang der Worte legte sich unangenehm über die Bilder der handlosen, augenlosen Menschen, die noch in ihrem Geist schwärten wie unbehandelte Wunden.
    Sie musste die Fackel weit von sich strecken, nach vorn, was ihr nicht behagte, da ihre Augen von dem Feuer geblendet wurden und sie nicht erkannte, was vor ihr lag, hinter der Flamme. Den Durchgang schätzte sie auf etwa zehn Meter Länge. Die Enge machte ihr nichts aus, dafür wurde der unangenehme Geruch immer stärker, und als sich die niedrige Höhle in einen Raum öffnete, wurde ihr beinahe übel davon.
    Melanie wusste nicht genau, was sie sich in dem Zimmer erwartete. Vermutlich einen weiteren dieser Mönche, in etwas würdevollerer Haltung vielleicht, aber blind und gehörlos wie die anderen, vielleicht ohne Hände, vielleicht ohne Füße.
    Doch im Zimmer der Wahrheit wartete ein Geschöpf auf die Studentin, wie es in Krankenhäusern oder Altenheimen keinen Platz hatte. Eine Kreatur, deren einziger möglicher Lebensraum … die Albträume fiebriger Nächte waren.
    Melanie hielt die Fackel neben sich und blinzelte in das von den violetten Nachbildern ihrer Augen durchsetzte Zwielicht.
    Im nächsten Moment versuchte sie die Augen wieder zu schließen, und als dies nicht ging, weil eine hässliche, unmenschliche Form von sensationsgieriger Neugier ihre Lider lähmte, riss sie sich die Fackel vors Gesicht. Der heiße, knisternde Vorhang aus Feuer verhinderte, dass sie mehr von dem sackähnlichen Geschöpf sah, diesem gliederlosen nackten Leib, nur Rumpf und Kopf, und der Kopf ohne Augen, Nase und Ohren, überzogen von Narben.
    Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn das Wesen nicht gelebt hätte, wenn nicht ein Herz unter dieser geschundenen Brust geschlagen und der zungenlose Mund nicht nach Luft geschnappt hätte.
    Melanie wirbelte herum, stieß den Mönch zur Seite, der vor dem Durchgang stand, und stolperte gebeugt durch den Tunnel nach draußen.
    Ziellos jagte sie durch das Gängesystem unter dem Kloster. Ihr Herz raste, der Atem ging pfeifend durch ihre Kehle, und ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Fackel zweimal fallen ließ. Etwas in ihrem Geist veränderte sich, ihre Sinneswahrnehmungen fächerten sich auf, und es war, als erlebe sich die nächsten Minuten mit all ihren Überraschungen und Wendungen immer wieder neu mit unterschiedlichen Sinnen.

6
    Was sie sah:
    Den Gang, ungleichmäßig und krumm in den Fels geschlagen, mit schiefen Wänden, kalt in seinen Farben, voller Schatten, die ihre Form und Größe veränderten, vor den gelben Zungen ihrer Fackel zurückschreckten und hinter ihr lautlos wieder zusammenschwappten, einer dämonischen Version des von Moses geteilten Meeres gleich. Boden und Wände ohne Zeichen, Anhaltspunkte, verschwörerisch gleichförmig, scheinbar nur dem einen Zweck dienend, sie in die Irre zu leiten.
    Dann, gänzlich unerwartet, eine junge Frau, die ihr aus dem Gang entgegenkam, rennend ebenfalls, gehetzt wie sie, aber ohne Fackel, ohne Licht. Diese Frau schien sie zu kennen, und sie schien die Frau zu kennen. Doch etwas war seltsam. Melanie konnte das Gesicht und die Gestalt vor ihren Augen nicht festhalten. Immer wieder entglitt sie ihr, schien an den Rand ihrer Aufmerksamkeit zu gleiten. Die Frau bewegte den Mund, wirkte erschrocken, und je erschrockener sie wirkte, desto klarer und bleibender wurde der Eindruck, den sie auf Melanie hinterließ. Sie schien Angst vor ihr zu haben, andererseits war es, als suche sie im Schein der Fackel Zuflucht.
    Eine endlose Zeit standen sie sich gegenüber, die Lippen der Frau formten Worte,

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