Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
Vom Netzwerk:
und immer wieder sah sie sich um, suchte offenbar nach Verfolgern.
    Melanies Hand griff nach der ihres Gegenübers, und für eine Sekunde stand das Mädchen deutlich vor ihr. Blonde, mittellange Haare, kleine Augen, ein etwas farbloser Mund in einem norddeutsch wirkenden, blassen Gesicht. Die Frau veränderte ihre Miene, gestikulierte, schien sich anzustrengen, um präsent zu sein, gewissermaßen wie jemand, der in einen Telefonhörer schrie, um durch ein Meer aus statischem Rauschen zum Gesprächspartner durchzudringen.
    So etwas hatte sie noch nie erlebt. Ihre Erklärung war, dass sie kurz davor stand, den Verstand zu verlieren. Mit der Frau schien eigentlich alles in Ordnung zu sein, nur Melanie war nicht dazu fähig, sie ordentlich wahrzunehmen. Ein Schock vielleicht, ausgelöst durch den Anblick der gliederlosen, gesichtslosen, nackten Kreatur im Zimmer der Wahrheit . Offenbar versuchte ihr Gehirn nun, die Sinneswahrnehmung herunterzufahren, um sich vor weiteren Schrecken zu schützen.
    Die Frau bewegte sich weg von ihr, und sie folgte ihr. Gemeinsam rannten sie durch die Korridore. Es gab auf einmal erstaunlich viele Abzweigungen. Sie ähnelten den Zugängen zu den türlosen Kammern, und jedes Mal zögerten sie, den Weg in einen neuen Gang einzuschlagen.
    Sie fanden eine zweite Fackel, doch ehe es der Frau gelungen war, sie von der Wand zu lösen, tauchte aus dem zuckenden Halbdunkel eine in verhüllte Gestalt auf. Hinter ihr rückte eine zweite nach. Ihre Bewegungen ließen erahnen, dass sie zu jenen Mönchen gehörten, die sehen konnten – vielleicht handelte es sich um die Chauffeure.
    Die Wände wirbelten herum, sie wirbelten herum, stolperten einige Meter dahin, bogen in einen Tunnel ab, der noch enger war als die letzten. Hielten inne. Im Licht der einzelnen Fackel bewegte die Frau wieder ihre Lippen. Sie war jetzt deutlich zu sehen. Melanies Geist schien sich beruhigt zu haben, aber wenn das so war, warum vernahm sie dann ihre Worte nicht? Auch ihre Schritte, ihre Atemgeräusche waren … Teil einer anderen Wirklichkeit, unerreichbar.
    Während sie dort standen, wuchs ein Kuttenträger hinter ihnen aus der Schwärze. Melanies Fackel zuckte in seine Richtung. Gewiss nicht, um ihn zu attackieren, um ihn in Flammen aufgehen zu sehen, sondern, um ihm zu drohen, ihn zurückzuhalten. Aber die Geste schien ihn nicht aufzuhalten. Sah er die Flammen nicht? Spürte er die Hitze nicht? Immer weiter näherte er sich, und ehe das Feuer auf ihn übergreifen konnte, zuckte sein Arm unvermittelt unter der Kutte hervor, sein blasser, handloser Armstumpf. Stieß zu.
    Die Fackel flog aus Melanies Hand, das Licht beschrieb einen zerfließenden Bogen und fiel hinab. Der Boden musste feucht sein, denn die Flammen zappelten eine Sekunde lang um ihr Leben und verlöschten.
    Die Welt wurde finster.
    Melanie war sicher, in dieser Finsternis wahnsinnig werden zu müssen.
    Sie fühlte und hörte nichts, war vollkommen abgeschnitten von den Wahrnehmungen ihrer Sinne. Sie rechnete damit zu sterben, aber sie fürchtete sich davor, den Zeitpunkt ihres Todes nicht mitzubekommen. Wenn man keine Sinne hatte, konnte man nicht einmal wissen, ob man nicht gerade geschlagen, vergewaltigt oder verstümmelt wurde. Das Bewusstsein war ein sinnloses, lächerliches Ding ohne die Wahrnehmung. Man wusste, dass man existierte, sonst nichts, und nicht einmal dafür hatte man einen Beweis.

    Was sie roch:
    Die Ausdünstungen des armen Teufels, die an ihr klebten, auch nachdem sie Hunderte von Metern zwischen ihn und sich gebracht hatte. Ihren eigenen Schweiß, beinahe köstlich dagegen, wie saurer Wein.
    Der stumpfe Atem der Höhlenwände, Stein, immer wieder Stein – unglaublich, wie intensiv Fels riechen konnte. Nach feuchtem Gras beinahe, nach moderndem Heu. Dazwischen der Brandgeruch der Fackel, beunruhigend, Assoziationen weckend. An die Hölle vielleicht, oder mindestens an Brände, deren Zeuge man geworden war. Ein Brand in nassem Holz hat einen geradezu dämonischen Geruch.
    Jetzt ein Mensch. Ein weiblicher Geruch vielleicht, aber kein Parfum. Ein ungeheuer vertrauter Duft. Er weckte Erinnerungen, die allerdings nirgendwo hin führten, wie solche, die man an Ereignisse in frühster Kindheit hat, Dinge, von denen man spürt, dass sie geschehen sein müssen, die man sich aber nicht mehr vor Augen zu rufen vermag. Angst nahm sie wahr, Angst, die anders roch als ihre eigene. Atem. Ganz nahe bei ihr.
    Dann feuchte Kleidung. Schmutzige Kleidung.

Weitere Kostenlose Bücher