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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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gewesen sein mochte, hatte sich in eine Wildnis verwandelt. Dornige Hecken krochen über die östliche Hälfte des Anwesens und machten ein Durchkommen unmöglich. Auf der westlichen Seite herrschte hohes Gras vor, das kein Hindernis darstellte. Es war ohnehin sinnvoller, sich aus dem Nordwesten zu nähern, um die tiefstehende Sonne nicht vor sich zu haben.
    Simon drehte anderthalb Minuten Film an der Rückwand. Gut erhaltene Reliefs bedeckten das Mauerwerk. Zeigten sie im Bereich des Erdgeschosses noch realistische Jagdszenen und nüchterne landwirtschaftliche Motive, so uferten sie weiter oben zu burlesken Fantasiewelten aus, voll von Mythengestalten wie Zwergen, Drachen und Einhörnern. Mit der Kamera folgte er einer Linie, die knapp über dem Boden als Weinrebe begann und sich direkt unter dem Dach zu einer neunköpfigen Hydra auffächerte. Die Dachrinne schien von einer Gruppe Gargoyles gehalten zu werden, von denen keiner wie der andere aussah.
    „Wer das Haus gebaut hat“, ließ sich Lilli vernehmen, „kann nicht viel dagegen gehabt haben, dass es als Spukschloss verschrien wird. Gruselig …“
    „Gruseln“, dozierte Simon, der die Kamera jetzt abgesetzt hatte, „ist, wenn man sich zurücklehnt und sich vorstellt, man hätte vor etwas Angst, vor dem man in Wirklichkeit keine Angst hat. Gruseln ist“, er suchte nach dem richtigen Ausdruck, „die wohlige Erwartung von Angst zum Zwecke der Beruhigung. So etwas nenne ich … spießig … reaktionär.“
    „Von uns glaubt niemand an Geister“, warf Pö etwas zusammenhanglos ein.
    „Eben, das meine ich ja. Geister sind etwas für Grusel filme. Wir drehen einen Horror film. Horror, weil er den Leuten, die ihn sehen, den Boden unter den Füßen wegreißen wird. Sie werden begreifen müssen, dass die Realität realer ist, als ihnen lieb ist. Nicht durchsetzt mit Träumen und Spinnereien. Geister haben in Horrorfilmen nichts verloren.“
    Sie gingen an der Westseite vorbei und erreichten die Front. Diese sah viel nüchterner aus als die Rückwand, fast ohne Schmuckelemente. Sie wirkte so kahl und blass, dass man den Eindruck hatte, jemand hätte ihr etwas genommen, so ähnlich wie eine Zimmerwand, von der man die Tapete abgezogen hatte. Die Front von Falkengrund schien nicht für menschliche Blicke bestimmt zu sein. Etwas gehörte darüber, eine Art Blende vielleicht, eine verzierende Schicht, die nicht vorhanden war.
    „Das gefällt mir“, verkündete Simon. „Das ist authentisch. Natürlicher als dieser ganze Wald da unten.“
    Lilli wollte nachfragen, wie eine Wand natürlicher sein konnte als die Natur, aber sie schluckte die Worte hinunter. Simon würde die Frage nutzen, um ihnen seine geistige Überlegenheit zu demonstrieren. Solche Lektionen hatte sie in den letzten Tagen genügend geschluckt, um für geraume Zeit gesättigt zu sein. Sie sah zu ihm auf, solange er sie akzeptierte – sobald er anfing, ihre Dummheit bloßzustellen, begann sie ihn zu hassen. Da war Pö anders. Pö konnte leben, ohne ständig auf den Fehlern anderer herumzureiten. Eines hatten die beiden Anführertypen allerdings gemein: Sie konnten jähzornig sein, und Brutalität war für sie ein Mittel der Selbstbehauptung, auf das sie gerne zurückgriffen.
    Simon sah durch den Sucher der Kamera und winkte Pö zu, ins Bild zu gehen. „Du siehst dir einen Moment die Wand an, dann kannst du die Tür öffnen und reingehen. Nicht lange zögern – das wirkt aufgesetzt. Du brauchst nicht auszusehen, als ob du Angst hättest. Du hast keine. Immer dran denken: Wir drehen keinen Grusel film!“
    Die Kamera lief jetzt. Pö gehorchte. Für das Haus hatte er nur einen beiläufigen Seitenblick übrig, die schwere Holztür, die einen winzigen Spalt weit offen stand, drückte er auf, als wäre es die Tür seiner Speisekammer zu Hause. Schnurstracks betrat er das Schloss, ohne sich neugierig umzusehen. Er verharrte in der Mitte der großen Halle und drehte sich ein Stück, damit sein Profil zu sehen war. Noch immer sah er gelangweilt aus. Nichts von dem, was um ihn war, interessierte ihn oder jagte ihm Furcht ein.
    „Das war perfekt!“, rief Simon, nachdem er die Kamera angehalten hatte. „Du spazierst in ein Geisterschloss hinein, und man könnte meinen, du würdest am Abend von der Arbeit in deine versiffte Altbauwohnung zurückkehren. Pö, Junge, wenn du gut bist, bist du richtig gut.“ Auch Simon ging nun hinein. Er klopfte dem anderen auf die Schulter, und gemeinsam sahen sie Steffen

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