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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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einem dieser alten Stummfilme. Ihre Haut war sehr blass, ihre dunkelbraunen Haare sahen schwarz aus, farblos.
    Steffen ging unsicher zur Treppe hinüber. Eines fühlte sich sehr ungewöhnlich an: Mit jedem Schritt, den er machte, schien er sich zehn Schritte von der Helligkeit und Wärme des Kaminfeuers zu entfernen, zehn Schritte auch von der Gesellschaft anderer Menschen, also von Pö, der wieder Holz nachlegte. Und hundert Schritte von Simon im ersten Stock, der ebenso in einer anderen Stadt oder in einem fernen Land hätte sein können. Als er die Nische erreicht hatte, war es beinahe finster um ihn, und die Wände schienen ihren eisigen Atem lange angehalten zu haben, um ihn ihm nun entgegen zu hauchen. Er blickte die Treppe hinab, und sie war nichts als ein schwarzer Tunnel, an dessen Ende kurz noch das Grün einer Bluse zu erkennen war.
    „Lilli!“
    Die junge Frau, die sich eben noch wie in Zeitlupe bewegt hatte, musste die Stufen in großer Eile hinabgehastet sein. Anders war es nicht zu erklären, dass sie nun ganz da unten (wie tief? Kilometertief?) um eine Ecke bog.
    Steffen zögerte, in die Finsternis hinab zu tauchen. Die Dunkelheit schien etwas Körperliches zu sein, wie ein Teich schwarzen Wassers. Lillis Schritte waren zu vernehmen, schnell, unregelmäßig, als würde sie dort durch einen Gang stolpern. Das Gefühl enormer Entfernung ließ ihn nicht mehr los. Alles schien sich von ihm zurückzuziehen, die Dinge, die Menschen. Vor allem die Menschen. Er fühlte sich auf schreckliche, kosmische Weise allein, zurückgelassen, obwohl ihn nur wenige Meter von den anderen trennten.
    „Lilli ist da unten“, brachte er hervor und erschrak über die Hilflosigkeit, die in seiner Stimme schwang. Er war wie das Kind, das im Kaufhaus in Tränen ausbrach, nur, weil seine Mutter für einen Moment hinter einem Kleiderständer verschwand.
    Pö legte den Schürhaken, mit dem er die Scheite im Kamin zurechtgerückt hatte, klappernd auf dem Tisch ab und kam zu ihm herüber. Die Entfernung erschien Steffen so gewaltig, dass er ernsthaft befürchtete, der andere würde ihn nie erreichen. Dann stand er neben ihm, unvermittelt, hatte die unerklärliche Kluft zwischen ihnen überwunden.
    „Gehen wir nachsehen“, sagte Pö. Er wirkte nicht nervös. Falls er beunruhigt war, dann eher über Steffens Verhalten als über Lilli. „Da unten kann nicht viel sein. Ein schöner alter Gewölbekeller, mehr nicht.“
    Geheimgänge , schoss es Steffen durch den Kopf. Was ist, wenn das Schloss auf einem Labyrinth von Gängen gebaut ist? Er sprach es nicht aus. Lillis Schritte waren von einem merkwürdigen Nachhall begleitet gewesen, als wäre das Untergeschoss sehr weitläufig. Aber Pö musste recht haben. Ein großer Gewölbekeller. Das erklärte es.
    Pö ging vor, und Steffen folgte dicht hinter ihm. Dicht? Er konnte gar nicht so dicht an ihm dran bleiben, dass sich das Gefühl, alleine zurückgelassen, nicht mehr einstellte. Zweimal stieß er gegen den Rücken des anderen, so eng klebte er an ihm. Es war ihm peinlich und irgendwie unheimlich, als Pös Gesicht sich in der Dunkelheit nach ihm umwandte und einen verärgerten, fast schon brutalen Ausdruck annahm. Bist du schwul, Junge? , fuhren die Blicke ihn an. Die Erleichterung darüber, nicht alleine zu sein, verwandelte sich unversehens in Beunruhigung. Er wusste nicht, woher der verrückte Gedanke kam, aber Pö schien die ganze Zeit über näher bei Lilli zu sein als bei ihm. Nicht menschlich näher – das war er sowieso. Auch räumlich näher.
    „Gibt es hier keinen Lichtschalter?“, brummte Pö.
    Steffen hätte es gewundert, wenn es einen gegeben hätte. Hatte es nicht geheißen, das Schloss stünde seit Jahrzehnten leer? Vermutlich hatte die Elektrizität Falkengrund noch nicht erreicht. Und würde es vielleicht nie erreichen.
    „Hörst du das Wimmern?“ Steffen fragte das. Eine Frauenstimme weinte in der Finsternis vor ihnen. Lilli? Er konnte es nicht sagen, weil er sie nie weinend erlebt hatte. Menschen hatten so viele Stimmen, klangen jedes Mal anders – beim Reden, beim Singen, beim Lachen, beim Weinen, am Telefon …
    Es gab ein Geräusch wie von einem Schlag gegen Holz, und nahezu gleichzeitig ein Stöhnen. „Da ist eine Tür“, sagte Pö statt einer Antwort. Er hörte sich verärgert an. Vermutlich hatte er sich gestoßen. Steffen achtete darauf, sofort stehen zu bleiben, um ihn nicht auch noch anzurempeln.
    Das Weinen veränderte sich, wurde zu einem Schreien,

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