Zimmer Nr. 10
offen, blicklos. Sie schienen die Wand hinter Winter zu fixieren oder einen Ort außerhalb der Wände und Türen dieses hässlichen Gebäudes. Als fixierten sie das Schweigen, auf das Winter gestoßen war. Das er hatte brechen können. Vielleicht würde nun eine Quelle zu sprudeln beginnen. Vielleicht würden dieser Quelle jedoch nur noch mehr Schweigen und mehr Lügen entströmen. Eine noch größere Finsternis.
»Paula war also Ellens Tochter?«, fragte Winter langsam.
Ney nickte bedächtig, wie um jedes einzelne Wort zu bestätigen.
»Warum lebte sie nicht bei ihren Eltern?«
Ney hörte auf zu nicken. Winter sah, dass er bei dem Wort Eltern wieder zuckte.
»Christer und Ellen«, sagte Winter. »Christer Börge.«
Ney schaute Winter an.
Und Winter las die Antwort aus den schwarzen Augen ab.
»Paula war Ihre Tochter.«
Ney nickte bedächtig wie zuvor. »Ja. Paula war mein.«
»Sie und Elisabeth haben das Kind adoptiert?«
Ney nickte wieder.
»Warum?«
»Ellen … war schwach. Sie war krank. Sie wurde damit nicht fertig.«
»Ellen verschwand«, sagte Winter. »Ellen wurde vermisst gemeldet. Sie blieb verschwunden.«
Ney antwortete nicht.
»Wann haben Sie Ellen das erste Mal getroffen?«
»Das ist lange her. Im Hotel. Als ich im Hotel arbeitete.«
»Im ›Odin‹?«
»Ja.«
»Sie hat auch dort gearbeitet?«
»Ja.«
»Lebten Sie damals mit Elisabeth zusammen?«
»Nein.«
»Kannten Sie Elisabeth zu der Zeit schon?«
»Ja, aber nicht näher.«
»Warum wurden nicht Sie und Ellen ein Paar?«
»Sie … wollte nicht«, sagte Mario. »Sie hatte nicht die Kraft dazu.«
»Weil auch sie mit jemandem zusammenlebte, nicht wahr?«
»Ja.«
»Mit Christer Börge.«
»Ta.«
»Warum hat sie ihn nicht verlassen?«
»Das … hat sie doch getan.«
»Viel später, erst lange nach Paulas Geburt.«
Ney nickte.
»Wie gut kannten Sie Christer Börge?«
»Über…haupt nicht.«
»Sind Sie ihm nie begegnet?«
»Doch.«
»Wo?«
»Im Hotel.«
»Im ›Odin‹?«
»Ja, dort auch.«
»Wie meinen Sie das, Herr Ney?«
»Sie fragen nach dem Hotel. Aber welches Hotel meinen Sie?«
»Sie haben ihn auch in einem anderen Hotel getroffen?«
»Ja.«
»Hat er im ›Revy‹ gearbeitet?«
»Dort war er jedenfalls, als ich ein paarmal etwas abholte. ›Odin‹ und ›Revy‹ haben sich offenbar gegenseitig ausgeholfen. Er war eine Art Hausdiener. Genauer weiß ich das nicht.«
»Warum haben Sie das nicht früher gesagt?«
»Niemand hat das wissen wollen. Und warum hätte ich davon erzählen sollen?« Ney sah Winter an. »Es ist mir ja selbst erst wieder eingefallen, als Sie gefragt haben.«
»Sie haben ihn auch in dem anderen Hotel getroffen?«
»Im ›Odin‹? Nur einige Wochen.«
»Hat Christer Börge ebenfalls dort gearbeitet?«
»Ja.«
»Als was?«
»Daran … erinnere ich mich nicht genau.«
Das kann warten, dachte Winter. Aber etwas anderes kann nicht warten. »Warum haben Sie beide nie erwähnt, dass Paula adoptiert war?«, fragte Winter.
»Es schien … unwichtig«, sagte Ney. Seine Stimme versagte ihm fast. »Das … schien keine Bedeutung zu haben. Sie war … weg. Tot. Daran konnte niemand mehr etwas ändern.« Er sah auf. »Wir hatten nicht die Kraft.«
»Wir haben keine Papiere über eine Adoption gefunden«, sagte Winter. »Darüber existieren keinerlei Unterlagen.«
»Es … gibt keine Papiere«, sagte Ney.
»Was?«
»Es gibt keine Unterlagen.«
»Warum das nicht?«
»Wir … sie … haben die Identität getauscht.« Ney sah auf. Jetzt war sein Blick klarer, als hätte die Enthüllung seiner großen Lebenslüge ihm einen Schleier von den Augen gezogen. »Elisabeth wurde … zu Ellen. Offiziell. Jedenfalls für die Behörden. Als hätte sie Paula geboren. Und ich wurde Paulas Vater, was ich ja … war.«
»Und Christer Börge? Was wurde er?«
»Er wusste von all dem nichts.«
»ER WUSSTE ES NICHT?« Winter sprach lauter als beabsichtigt.
»Ellen hat ihn verlassen«, sagte Ney, »für die … Monate. Aber es dauerte länger. Mehr als ein Jahr. Und sie brachte das Kind zur Welt.«
»Und kehrte zu ihm zurück?«
Ney nickte.
»Hat sie es Börge nie gesagt?«
»Nein.«
»Und sie lebte weiter mit ihm zusammen?«
»Ja …«
»Bis sie ihn für immer verließ?«
»Ja …«
»Das ist doch nicht möglich«, sagte Winter. »Das kann einfach nicht sein. Warum verschwand Ellen?«
»Sie wollte … von ihm weg«, sagte Ney. »Sie hatte Angst.«
»Wohin ist sie gegangen?«
»Sie war mal
Weitere Kostenlose Bücher