Zimmer Nr. 10
verschwand?«
»Ich bin nicht sicher«, sagte Winter.
»Wir haben uns ganz auf Christer Börge konzentriert«, sagte Ringmar, »vielleicht nicht so intensiv, wie wir es hätten tun sollen.«
»Vielleicht haben wir damit gerechnet, dass sich jemand meldet, wenn die verschwundene Schwester wieder auftaucht«, sagte Winter. »So geht es in der normalen Welt zu.«
»Mhm.«
»Damals wusste ich nicht, dass nichts normal ist auf dieser Welt.«
»Von welcher Welt redest du?«
»Die, in der wir leben, Bertil.«
»Das wusste ich damals auch nicht«, sagte Ringmar.
Winter dachte nach. Was hatte er in den Tagen und Wochen nach Ellens Verschwinden unternommen? Er hatte angeru…
»Verdammt, wir haben ja mit ihr geredet!« Winter sprang vom Schreibtisch auf. »Wir wussten von der Existenz der Schwester. Einer der Kollegen hat damals mit ihr gesprochen. Das muss irgendwo in den Akten stehen.«
»Sie hat wahrscheinlich nur bestätigt, dass Ellen sich nicht hat blicken lassen«, sagte Ringmar.
Winter schwieg.
»Etwas Besonderes wird das Gespräch wohl kaum ergeben haben.«
»Aber die Schwester war Elisabeth Ney«, sagte Winter.
»Elisabeth Ney!«
Ringmar nickte.
»Jetzt hilf mir mal«, bat Winter.
»Wie soll ich dir helfen, Erik?«
»Wo besteht da der Zusammenhang? Wenn es einen Zusammenhang gibt.«
»Du hast vermutlich am meisten von uns allen darüber nachgegrübelt«, sagte Ringmar.
»Wo ist da der Zusammenhang«, wiederholte Winter.
»Ellen und Elisabeth sind Schwestern. Waren Schwestern. Paula ist Elisabeths Tochter. War Elisabeths Tochter.«
»Weiter«, forderte Winter.
»Ellen ist vor achtzehn Jahren verschwunden. Niemand hat sie jemals wiedergesehen, soweit wir wissen. Vor einigen Monaten trägt sie einen Koffer zum Hauptbahnhof und stellt ihn in ein Schließfach. Wir sind nicht sicher, ob sie es war, aber wir vermuten es.« Ringmar schaute auf. »Und dann finden wir ihre Leiche.«
Winter nickte.
»Vorher haben wir Elisabeths Leiche gefunden.« Ringmar machte eine Pause. »Und davor haben wir Paulas Leiche gefunden.«
»Drei Leichen«, sagte Winter.
»Drei Morde.«
»Und drei Männer«, sagte Winter.
Ringmar schwieg. Er kannte die Namen der Männer: Mario Ney. Christer Börge. Jonas Sandler.
»Wir müssen uns noch mal mit Jonas Sandler unterhalten«, sagte Winter. »Und mit seiner Mutter.« Er erhob sich. »Wir werden ihnen etwas zeigen.«
*
Anne Sandler stand von der Bettkante auf, als Winter und Ringmar das Zimmer betraten. Jonas lag mit dem Gesicht zur Wand und rührte sich nicht. Anne Sandler kam ihnen ein paar Schritte entgegen.
»Wie geht es ihm?«, fragte Winter.
»Ich glaube, er schläft«, sagte sie. »Er wirkt total erschöpft.«
Jonas’ Hinterkopf war zur Hälfte unter der Decke verborgen.
Anne Sandler folgte Winters Blick. »War es wirklich nötig, ihn hierher zu bringen?«, fragte sie.
Es hätten anklagende Worte sein können, doch Winter hörte keinen anklagenden Ton heraus.
»Wir haben ihn hier unter Observation«, sagte er.
»Was für eine Observation?«
»Im medizinischen Sinn natürlich.«
»Dann hätten Sie ihn doch in ein Krankenhaus bringen lassen können.«
»Ich schlage vor, dass wir beide in ein anderes Zimmer gehen«, sagte Winter. »Bertil Ringmar bleibt bei Jonas.«
Sie folgte ihm wortlos hinaus auf den Flur. Draußen drehte sie sich zu ihm um. »Sie glauben doch wohl nicht, dass Jonas etwas mit … mit all diesem Schrecklichen zu tun hat?«, fragte sie.
Winter antwortete nicht. Er zeigte auf das andere Ende des Korridors, wo sein Büro war.
Dort wiederholte sie ihre Frage. Sie sah aus wie jemand, der sich plötzlich in einer fremden Welt wiederfindet, und der langsam begreift, dass es kein Traum ist.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Winter und deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Jonas hat nichts … Böses getan«, sagte sie und setzte sich.
»Was hat er eigentlich da draußen gemacht?«, fragte Winter. »Er konnte es nicht erklären. Konnte nicht davon sprechen.«
»Er stand unter Schock«, sagte sie. »Er ist zutiefst erschüttert! Wer würde das nicht sein?« Ihre Augen wurden größer.
»Eine … Leiche … eine Tote in einem Wäldchen. In unserem Wäldchen?«
»In dem Wäldchen hab ich Jonas jedenfalls angetroffen«, sagte Winter. »Allerdings bevor wir die Leiche fanden.«
Sie schwieg.
»Und das wundert mich«, sagte Winter.
»Ich begreife das nicht«, sagte sie nach einigen Sekunden.
»Er auch nicht. Es geht ihm nicht
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