Zimmer Nr. 10
hätte jemand versucht, sie durchzukauen.
Auf dem Fußboden war ein großer Fleck, der sich weiter in die Schatten zog. Er schien immer noch feucht zu sein.
Hier hat er sie gefangen gehalten, dachte Winter. Ellen. Schließlich ist sie doch nach Hause gekommen.
Wieder stieg Übelkeit in ihm auf, erfasste ihn wie ein Sturm.
38
Winter stand auf dem Bürgersteig und füllte seine Lungen mit frischer Luft. Der Regen hatte nachgelassen, aber der Sturm zerrte an den Linden, als wollte er sich für etwas rächen. Vielleicht war es sogar ein Orkan. Winter hielt das Gesicht in den Regen, um so viel Wasser zu trinken wie möglich. Er hatte einen erstickend schlechten Geschmack im Mund, nachdem er sich eben erbrochen hatte. In seinem Zwerchfell brannte es immer noch wie Feuer.
Rechts von dem großen Fleck hatte er Paulas Koffer entdeckt. Er hatte ihn nicht geöffnet.
Während er das Gesicht in den schwarzen Himmel reckte, klingelte sein Handy. Er war erstaunt, dass es den brüllenden Sturm durchdrang.
»JA?«, schrie er ins Mikrofon, während er sich rückwärts in den Hauseingang zurückzog.
Eine Stimme, keine Worte.
»ICH HÖRE NICHTS!«, schrie er.
Plötzlich verstand er etwas, mitten in einem Satz war die Leitung frei, als wären sie im Auge des Orkans gelandet.
»Bitte wiederholen Sie, was Sie gesagt haben.«
»Ich wollte sie nicht erschrecken!«
»Jonas!«
Er bekam keine Antwort. »Wo sind Sie?«
»Ich bin …«
Die Worte versickerten wieder in der Nacht. Oder dem nahenden Morgen. Vielleicht würde es auch an diesem Tag hell werden.
»Hören Sie zu, Jonas. Verstehen Sie mich?«
Winter hörte nur ein Gemurmel. Zwei Personen sprachen mit sich selbst über dieselbe Telefonleitung.
Plötzlich war Jonas’ Stimme wieder da, laut und deutlich.
»Ich wollte sie vor ihm warnen! Vor Börge! Ich hab’s schon mehrmals versucht, aber ich hab mich nicht getraut.«
»Ich stehe vor seinem Haus«, sagte Winter. »Ich war drinnen.«
Der Sturm trug das Gespräch wieder mit sich fort. Winter meinte noch einmal Börges Namen zu hören, aber er war nicht sicher. Die Stimme wurde schwächer, als wäre die Person am anderen Ende vom Sturm erfasst und weggefegt worden.
»Jonas?«, rief Winter. »JONAS?«
Keine Antwort.
Was sollte er sagen? Konnte der Junge ihn hören? War ihm klar, dass er sich in Gefahr befand? Sollte er ihn auffordern, zu bleiben, wo er war? Aber Winter wusste nicht, wo das war. Es hatte geklungen, als hätte er draußen telefoniert. Aber auch wenn er sich in einem Haus aufhielt, konnte es für ihn gefährlich werden. Jetzt drang nur noch ein Tuten in Winters Ohr. Die Verbindung war endgültig unterbrochen. Winter starrte auf sein Auto, drehte sich um, sah zu den schwarzen Fenstern von Börges Wohnung. Hatte das Licht im hintersten Zimmer vor Augen. Er dachte an das Gespräch mit Jonas. Es war unterbrochen worden, wie das mit Richard Salko. Bestimmt hätte Salko ihn niemals angerufen, wenn es nicht um etwas Wichtiges ginge, etwas Lebenswichtiges. Winter versuchte es noch einmal mit dem Handy unter Salkos Privatnummer. Auch diesmal meldete sich niemand.
Doch es gab einen Ort, an dem Salko sich aufhalten könnte. Es war der einzige Ort, den Winter sich im Augenblick vorstellen konnte. Der Ort, wo alles angefangen hatte.
Das Hotel »Revy« schien im Sturm zu schwanken, aber nur infolge des Spiels der Schatten im Wind. Die schmalen Gassen des Stadtviertels schienen nicht mehr zu existieren. Winter war eine von ihnen entlanggefahren, bis er nicht mehr weiterkam, weil eine abgebrochene Birkenkrone die Straße blockierte. Es gab mehr Bäume in dieser Stadt, als man glauben mochte. Das Stadtzentrum sah aus wie ein Dschungel, eine nordische Wildnis.
Winter stand auf der Treppe vor dem verschlossenen, dunklen Hotel. Das Schild an seinem Gestell war noch da, im Sturm glich es noch mehr einer Riesenspinne, die die Wand hinaufkletterte. Die frühe Morgendämmerung färbte den schwarzen Himmel hinter der rissigen Fassade in einem matten Rotton, der, aus dem Nichts kommend, stetig intensiver wurde. Winter sah hoch zu dem Fenster, das zum Zimmer Nummer 10 gehörte. Er stieg die letzten Treppenstufen hinauf und drückte die Messingklinke hinunter. Die Tür glitt lautlos auf. Winter beleuchtete das Schloss mit der Taschenlampe, die er aus dem Handschuhfach des Mercedes genommen hatte, konnte aber keine Spuren von Fremdeinwirkung entdecken. Aber das Messing war genauso uralt wie alles andere im Hotel, die
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