Zimmer Nr. 10
hat. Vielleicht hängt das überhaupt nicht mit dem Mord zusammen. Dem Mörder. Sie hatte eben bloß Pech auf dem Weg zum Bahnhof. Hat jemanden getroffen. Und dann ist irgendwas schief gegangen.«
»Du glaubst, sie war auf dem Weg zum Bahnhof? Abends, nachdem sie mit einer Freundin ein Glas getrunken hatte?«
Sie hatten versucht, Paula Neys Bewegungen in den letzten Stunden nachzuvollziehen. Die letzten Stunden in Freiheit, wie Winter es bei sich genannt hatte. Aber bis jetzt hatten sie noch keinen gesprochen, der sie gesehen, bemerkt oder erkannt hatte. Es war wie immer, die Großstadt war ein anonymer Ort, sie gewährte jedem Schutz, den Bösen, manchmal den Guten, bot Unsicherheit, Geborgenheit. Für jede Großstadt gilt ein merkwürdiges Paradoxon: je mehr Menschen, um so mehr Einsamkeit. Auf dem flachen Land wissen im Umkreis von hundert Kilometern Wald alle alles, hören alles, sehen alles, merken alles, erkennen jeden wieder. Dem kann sich keiner entziehen.
»Glauben, glauben«, antwortete Halders, »es wird langsam Zeit, dass wir sicher wissen.«
Halders legte auf. Ließ den Blick schweifen über die schützenden Plastikfolien, die halb gestrichenen Wände, alles war im Umbruch, und mitten im Umbruch waren die Arbeiten vorübergehend unterbrochen. Die Wohnung war eine Eigentumswohnung, nichts Exklusives, aber auch kein Schrott, obwohl das keine Rolle mehr spielte, weil alle Wohnungen Phantasiesummen kosteten. Diese zwei Zimmer auf den Anhöhen von Guldheden würden für eineinhalb Millionen Kronen weggehen, vielleicht mehr, unabhängig von den Nebenkosten. Wann hatte Paula Ney sie gekauft? Hatte schon mal jemand die Frage gestellt? Wenn das der Fall war, hatte Halders nichts davon mitbekommen. Wie viele Jahre hatte sie hier gewohnt? Hatten die Eltern ihr die Wohnung gekauft? Jemand anders? Ich muss meine Hausaufgaben machen, dachte Halders. Weiter fragen.
Draußen wiegten sich die Baumkronen im Wind, Ulmen, Linden, Ahorn, fünfundzwanzig Meter hohe Wipfel, hundert Jahre alte Riesen, die noch hier stehen würden, wenn er längst fort wäre wie all die anderen, die heute Morgen um den Tisch beim Kaffee versammelt gewesen waren; die ganze Gang würde früher oder später verschwinden aus dem irdischen Paradies, und das Grün, das hoch in den Himmel ragte, würde sich weiter wiegen in der lieblichen Sommerszeit. Vor einigen Jahren hatte er angefangen, über das Leben nachzudenken, war Existenzialist geworden. Das war ja nur eine Frage der Zeit in diesem Job. Er beschäftigte sich mit dem Ende der Existenz, dem vorzeitigen Ende, das war Schwerstarbeit, heikle Arbeit, und manchmal fragte er sich, warum Gott und der Justizminister sie ausgerechnet der Polizei übertragen hatten.
Er schüttelte die Gedanken ab und ging erneut ins Schlafzimmer.
Da war etwas, das er beim ersten Mal nicht bemerkt hatte. Etwas, das er erwartet hatte, ohne zu wissen, was. So war es oft, er wusste, dass etwas fehlte, aber er wusste nicht, was. Das konnte in einem beliebigen Zimmer sein, bei einer Person, an einem Fundort, einem Tatort. Was nicht da war, konnte interessanter sein als das, was er vor Augen hatte, anfassen konnte. Das Bild war nicht vollständig, wenn er nicht fand, was fehlte.
Was hatte er vor einer Weile, vor seinem Anruf bei Winter, in diesem Raum vermisst? Es war etwas, das in ein solches Zimmer gehörte, gerade in ein Schlafzimmer. Ein Bett? Nein, das Bett war noch da, von einem Himmel aus Plastik bedeckt. Eine Kommode? Nein.
In seiner Laufbahn als Fahnder hatte Halders in Hunderten von Schlafzimmern gestanden. Er hatte gesucht. Er hatte registriert. Er hatte Details studiert, versucht, sich die Gegenstände in einer anderen Umgebung vorzustellen, einem anderen Leben.
Was war es, was es immer in einem Schlafzimmer wie diesem gab? Etwas Persönliches, geradezu Intimes. Etwas, das der Bewohner dieses Zimmers am Abend, am Morgen, als Letztes, als Erstes sah. Es hing meistens an der Wand. Oder stand auf dem Nachttisch. Hier hing nichts an der Wand, weil die Wände gerade gestrichen worden waren. Und nichts stand auf dem Nachttisch neben dem Bett. Das wäre möglich gewesen, die Plastikfolie schützte alles darunter.
Es gab kein Foto im Zimmer, keins von Paula Ney, von einer anderen Person. Nirgendwo in der Wohnung gab es eine gerahmte Fotografie. Das schien die Einsamkeit noch zu unterstreichen.
Sie hatten einige Umschläge mit gewöhnlichen Schnappschüssen gefunden, aber die waren unpersönlich, waren
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