Zimmer Nr. 10
das Gesicht zur Straße gewandt.
»Wie ging es Ellen?«, fragte Winter.
Börge drehte sich um. Winter sah die Hausdächer im Hintergrund, und plötzlich kam die Sonne hinter einer kleinen Wolke hervor, und Börges Kopf wurde zu einer Silhouette, als die Sonne direkt ins Zimmer schien. Er drehte den Kopf, als folge er dem Lauf der Sonne, und Winter hatte die Silhouette im Profil vor sich. An dieses Bild würde er sich noch lange erinnern.
Börge kam zurück und setzte sich. Jetzt schien die Sonne Winter ins Gesicht, und er schirmte die Augen mit der Hand ab.
»Soll ich die Vorhänge vorziehen?«, fragte Börge.
»Nein, nein. Die Sonne verschwindet schon wieder.«
Eine Wolke glitt langsam vor die Sonne, und in wenigen Minuten würde sie für den Rest des Tages verschwunden sein.
»Sie haben etwas gefragt«, sagte Börge.
»Ihre Frau. War da was Beson…«
»Ja, ja, wie es ihr ging. Gut ging es ihr. Die Zeit vorher? Tja, man fühlt sich doch nicht ständig gleich? Das wechselt doch von Tag zu Tag, nicht? Das ist doch bei uns allen so, nicht? Geht Ihnen das nicht so? Bei mir ist es so.«
»War sie unruhig, rastlos?«
»Nicht mehr … als sonst auch.«
»Wie meinen Sie das?«
»Das habe ich Ihnen doch schon erzählt. Die Sache mit dem Kind. So was.«
»Hat sie jemals davon gesprochen, wegzugehen?«, fragte Winter.
Börge antwortete nicht.
»Für eine Weile zu verreisen? Allein?«
»Nicht ohne Koffer.« Auch diesmal lächelte Börge nicht.
»Und Sie sind nie im Hotel ›Revy‹ gewesen?«
»Ich wusste nicht mal, dass es das gibt«, sagte Börge.
»Aber Ihre Frau wusste es.«
»Sie haben sich in der Person geirrt.«
»Nein.«
»Ellen würde in so einem Hotel niemals ein Zimmer nehmen. Nie.« Er sah Winter wieder an. Jetzt war die Sonne ganz weg. Im Zimmer war es plötzlich dunkel geworden. Sie brauchten künstliches Licht. Winter konnte kaum noch Börges Gesicht erkennen. Aber das veränderte sich ja nicht. Seine Miene schien sich nie zu verändern.
»Die Leute sehen sich doch ähnlich«, fuhr Börge fort.
»Jedes Land hat seine Eigenheiten. Hier sind wir blond und blauäugig. In den Augen eines Fremden müssen wir alle gleich aussehen. In Afrika zum Beispiel ist es genauso. Ein Afrikaner in einem Hotel in Schwarzafrika sieht keinen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen Europäer, der eincheckt. Genauso ist es in China.«
»Sie wurde im Hotel wieder erkannt«, sagte Winter.
»Was bedeutet das schon? Ein verkaterter Portier? Schlaftrunken? Da geb ich nicht viel drauf. Das sollten Sie auch nicht tun.« Börge beugte sich vor. Winter starrte in seine ausdruckslose Miene. Da war keine Spur von Erregung. »Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass sie vielleicht nie dort war?«
»Schon.«
»Na also.« Börge lehnte sich zurück.
»Was glauben Sie denn?«, fragte Winter.
»Wie meinen Sie das?«
»Wo Ellen ist.«
Börge antwortete nicht.
»Was ihr passiert sein könnte.«
Auch jetzt antwortete Börge nicht. Er drehte wieder den Kopf, als hätte ihn jemand auf der Straße gerufen. Der Himmel über den Hausdächern gegenüber war tiefblau. Winter sehnte sich plötzlich dort hinaus, in all das Blau.
»Ich liebe sie«, sagte Börge. Er drehte sich wieder zu Winter um. »Und sie liebt mich.«
Sie spürte einen Hauch im Nacken, als würde sie jemand anpusten, jemand, der hinter ihr stand und mit kaltem Atem in ihren Nacken atmete.
Sie drehte sich um. Dort war niemand. Der Wind zerrte in den Baumkronen auf der anderen Seite des Spielplatzes, als wollte er die Zweige abreißen. Zwei oder drei Böen rüttelten an den Bäumen. Dann war es vorbei, der Gesang der Vögel war wieder zu hören. Ein Lachen von einem der beiden Kinder, die gerade schaukelten. Die Kinder hatten den rauschenden Wind abgewartet, hatten still auf den Schaukelbrettern gesessen und die Beine vorgestreckt, als wollten sie die Temperatur oder die Windstärke messen. Eins der Kinder hatte einen Schuh verloren, es war das Mädchen, der Junge war von der Schaukel gesprungen, hatte den Schuh hoch über den Kopf gehalten und etwas gesagt, das das Mädchen zum Lachen brachte. Aber das Lachen war kaum zu hören gewesen bei dem Wind.
Sie ging weiter am Park entlang. Der Gehweg endete bei den Mietshäusern. Von dort hatte man einen guten Blick auf die Stadt, das Haus, in dem sie wohnte. Ihr gefiel die Aussicht, wenn sie sich näherte und das Sonnenlicht schräg von der Seite darauffiel. Von hier aus konnte sie viel von der Stadt
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