Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
Vom Netzwerk:
hatte. Falls jemand sie gesehen hatte. Wenn sie hier gewesen war, gab es noch Hoffnung, musste man nicht jede Hoffnung fahren lassen. Unwillkürlich kam ihm die Bibel in den Sinn, eine Kirche, ein Kreuz, ein Grab.
    »Sie soll also hier gewesen sein?«, wiederholte die Frau.
    Er hatte Lust, mit ja zu antworten. »Wir versuchen nur herauszufinden, ob sie von hier weggefahren ist«, sagte er. »Sie ist verschwunden.«
    »Ich erkenne sie jedenfalls nicht wieder«, betonte die Frau erneut. »Wann ist sie verschwunden?«
    Winter nannte das ungefähre Datum. »Aber sie könnte auch später hier gewesen sein«, fügte er hinzu.
    »Erst hält sie sich versteckt, und dann fährt sie weg?«, fragte die Frau.
    Winter zuckte mit den Schultern.
    »Was kann ich also für Sie tun?«
    »Das Foto Ihren Kolleginnen zeigen.«
    »Wir sind nur zu dritt.«
    »Zeigen Sie es ihnen bitte. Wir haben Kopien an alle verteilt, die auf dem Bahnhof arbeiten.«
    »Das muss ja schnell gegangen sein.« Die Frau verzog das Gesicht. »Hier scheint doch niemand außer uns zu arbeiten. Immer kommen alle zu uns.« Sie zeigte auf die Tür hinter Winter. »Sie haben die Schlange doch gesehen? Die kommen alle hierher.«
    »Sie vielleicht auch.« Winter deutete auf das Foto, das die Frau immer noch in der Hand hielt.
    Sie warf erneut einen Blick auf Ellen Börges Gesicht. »Vielleicht wusste sie, wohin sie wollte, und brauchte uns nicht«, sagte die Frau und sah Winter wieder an.
    *
    Er saß wieder in der perfekten Wohnung. Hier war nichts verändert worden, vielleicht war hier noch nie etwas verändert worden. Christer Börge saß ihm gegenüber. Er war genauso gekleidet wie beim letzten Mal. Die Balkontür stand offen. Im Zimmer roch es nach Sonne und Herbst und nach etwas, das Winter nicht kannte. Aber Börges Gesicht kannte er. Der Mann hatte enttäuscht gewirkt, als er die Tür öffnete. Er wusste, dass Winter kommen würde, aber er hatte ausgesehen, als erwarte er jemand anders. Winter meinte ihn zu verstehen. Börge lebte von der Hoffnung. Vielleicht war es das Einzige, was ihn am Leben hielt. Er wirkte mager, schien abgenommen zu haben, seit Winter ihn das erste Mal getroffen hatte. Das war lange her. Börge war es wahrscheinlich wie ganze Jahreszeiten vorgekommen, mehrere Altweibersommer hintereinander.
    »Sie sollten doch inzwischen eine Spur haben«, sagte er.
    »Ehrlich gestanden, haben wir keine.«
    »Warum sollten Sie nicht ehrlich sein?«, fragte Börge, aber Winter konnte kein Lächeln in seinem Gesicht entdecken, nicht einmal den Schatten eines Lächelns. »Polizisten sollten ja wohl ehrlich sein.«
    Wieder dieses »sollte«. Das verfolgte ihn heute. Als wäre alles vorherbestimmt. Alles wiederholte sich. Vielleicht sitze ich in zwanzig Jahren erneut hier. Vielleicht haben Ellen und Christer dann vier Kinder. Oder sie ist nicht zurückgekommen. Vielleicht habe ich Kinder, eine Familie. Wäre das möglich? Nein. Ja. Nein.
    »Leute verschwinden also einfach?«, sagte Börge mit erhobener Stimme. »In was für einer Gesellschaft leben wir denn, dass Leute einfach so verschwinden können?« Das klang seltsam. Börge benutzte Worte, die eine größere Lautstärke erforderten, aber die Tonlage blieb dieselbe, als hätte er Winter gebeten, ihm die Kaffeesahne zu reichen. »Das ist ja wie in … wie in …«, fuhr er fort, aber ihm schien kein Vergleich einzufallen.
    Uruguay, dachte Winter, Argentinien, Chile.
    »Es ist besser, wenn Sie nicht mehr kommen«, sagte Börge. »Ich verstehe nicht, warum Sie Ihre Fragen nicht am Telefon stellen können. Falls Sie etwas haben.« Er sah Winter an.
    »Fragen, meine ich.« Auch diesmal lächelte er nicht.
    »Wie ging es Ihrer Frau in den Tagen, bevor sie verschwand?«
    »Das haben Sie schon mal gefragt.« Börge zeigte auf das Notizbuch, das Winter in der Hand hielt. Er hatte sich noch nichts notiert. »Schauen Sie nach. Sie werden sehen, dass Sie mich das schon einmal gefragt haben.«
    Kein Lächeln, nur ein normaler Hinweis. Die ganze Zeit war Börge auf dem Sofa in Bewegung, machte kleine Bewegungen, die an Tics erinnerten, aber wohl eher Ausdruck allgemeiner Unruhe waren. Vielleicht ist das bei mir genauso, ging es Winter durch den Kopf.
    »Über manches denkt man eben häufiger nach. Wir arbeiten doch gemeinsam an der Sache. Wir wollen doch wissen, was mit Ihrer Frau ist.«
    »Ja, ja, schon«, sagte Börge. Abrupt stand er auf, durchquerte das Zimmer und schloss die Balkontür. »Es wird kühl«, sagte er,

Weitere Kostenlose Bücher