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Zimmer Nr. 10

Titel: Zimmer Nr. 10 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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meine Rechnung«, sagte er, als die Frau sich entfernt hatte.
    »Sie meinen die der Polizeidienststelle?«
    »Bekomme ich leider nicht durch.«
    »Arbeiten Sie häufig auf diese Weise?«, fragte Ney. »Am Ende werden Sie noch Alkoholiker.«
    »Daran arbeite ich«, sagte Winter.
    »Passen Sie auf. Das geht schneller, als man denkt.«
    Winter nickte.
    »Ich hab das bei Leuten in meinem Umfeld gesehen«, sagte Ney.
    »Was für ein Umfeld ist das?«
    »Kein besonderes«, antwortete Ney.
    In der Bar herrschte eine friedliche Atmosphäre. Es war gerade Happy Hour. Den Barkeeper kannte Winter nicht. Der Mann hatte ein blaues Auge. Er hatte offenbar Prügel bezogen, doch wohl kaum hier. So eine Art Lokal war dies nicht.
    »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich so schroff war«, begann Ney. »Ich meine bei uns zu Hause.« Er sah Winter an. »Und ich sage das nicht, weil Sie mich zu einem Glas Wein einladen.«
    »Ich kann Sie auch zu zwei Gläsern einladen.«
    »Verstehen Sie, was ich meine?«, fragte Ney.
    »Ich verstehe, dass Sie so reagiert haben. Das ist normal.«
    »Wirklich?«
    »Wenn etwas Derartiges geschieht, ist alles normal«, sagte Winter. »Alles und nichts. Nichts ist mehr normal.«
    Er schaute sich wieder in der Bar um. In den letzten fünf Minuten war es in den Ecken schummriger geworden. Die Konturen begannen sich aufzulösen, als hätte er schon einige Gläser getrunken. Alles würde matter und matter werden, bis jemand auf die schlechte Idee kam, das Licht einzuschalten. Bis dahin hatten sie Schummerstunde. Die Weingläser standen noch auf dem Tisch. Keiner von uns will das Glas heben, dachte Winter. Deswegen sind wir nicht hier.
    »Aber warum?«, sagte Ney nachdenklich. »Es ist doch nicht zu begreifen. Warum?«
    »Dieser Brief …«, sagte Winter.
    »Sprechen Sie mir nicht von dem verdammten Brief«, sagte Ney.
    »Das müssen wir aber.«
    »Ich will nicht. Elisabeth will nicht. Niemand will das.«
    Winter hob das Glas und nahm einen Schluck, ohne sich die Mühe zu machen, vorher am Wein zu riechen. Das trug dazu bei, dass der Wein an Geschmack verlor. Ney trank ebenfalls. Er hielt sich nicht lange mit dem Weinprobieren auf. Sie hätten ebenso gut irgendein Gesöff aus einem Karton trinken können. Das hatte Winter noch nie getan. Wein gehörte in Glasflaschen. Wer Wein aus dem Karton trank, sollte ihn konsequenterweise auch aus Plastikbechern trinken.
    Ney stellte das Glas ab. »Ich verstehe nicht, was für eine Schuld sie empfindet«, sagte er und wich Winters Blick aus.
    »Etwas muss es doch sein. Als wollte sie um Verzeihung bitten. Sie bittet ja um Verzeihung. Es gab nichts, wofür sie sich hätte entschuldigen müssen. Gar nichts.«
    »Nichts, was jemals in der Familie passiert ist?«
    »Was sollte das sein?«, fragte Ney.
    »Etwas, woran sie gedacht hat«, sagte Winter. »Was ihr nicht aus dem Kopf ging. Etwas, woran Sie sich vielleicht nicht mehr erinnern.«
    »Ich halt das nicht aus.« Jetzt sah Ney ihn wieder direkt an.
    »Ich kann mich an nichts Dergleichen erinnern. Da ist nichts. Was sollte es sein, das … das Paula dazu bringen konnte, so einen Brief zu schreiben? In … dieser Situation. Herr im Himmel.«
    »Sie war verreist«, sagte Winter. »Eine lange Reise.«
    »Das ist schon ewig her.«
    »Warum ist sie gefahren?«
    »Sie war jung. Jünger. Herr im Himmel. Sie war ja immer noch blutjung.«
    Ney schien sich mit einem Mal vor seinen eigenen Worten zu fürchten. Als hätten sie ihn überfallen. Er war zusammengezuckt wie unter einem Schlag. Als würde vor ihm jemand stehen, den Winter nicht sah. Plötzlich zog es kalt von der Tür her, vielleicht von den Fenstern. Neys Blick wanderte nach innen. Sein Gesicht verschloss sich, als sei eine schwere Tür zugefallen.
    »Lange Zeit wussten Sie nicht, wo Paula war«, gab Winter zu bedenken.
    »Wir wussten, wo sie war«, sagte Ney.
    »Ach?«
    »Wir wussten, dass sie in Europa herumreiste.«
    »In Italien? Ist sie in Ihre Heimat gefahren?«
    Ney antwortete nicht. Das war auch eine Antwort.
    »Nach Sizilien?«
    »Da gab es nichts mehr«, sagte Ney. »Nichts für sie zu sehen.«
    »Aber sie ist hingefahren?«
    »Dort gab es nichts für sie zu finden.«
    »Finden? Was suchte sie denn?«
    »Sie suchte …«
    Ney schien selber nach Worten zu suchen. Es hatte den Anschein, als sei seine eigene Vergangenheit so weit entfernt, dass er sich nicht an sie erinnern oder das Erlebte in Worte kleiden konnte. Ich muss vorsichtig sein, dachte Winter.

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