Zimmer Nr. 10
vorbei.«
»Sie hat furchtbar geschrien«, sprudelte Elsa hervor.
»Genug, dass sie bis morgen durchschläft«, sagte Angela.
Winter bückte sich und gab seiner jüngsten Tochter einen Kuss. Sie wurde nicht wach. Sie roch gut, den Duft hatte er fast vergessen.
Elsa und Lilly schliefen, als er eine zweite Flasche öffnete und diese ins Wohnzimmer trug. Angela saß im Sessel in der Nähe des Balkons. Die Balkontür war angelehnt, und sie hörten das entfernte Brausen des Verkehrs. Die Gardine bewegte sich in einem Luftzug.
»Es ist milder, als ich mir vorgestellt habe«, sagte Angela. »Und die Stadt wirkt größer. Komisch.«
»Man vergisst leicht«, sagte Winter.
»Wie mild es in Göteborg ist?«
»Ja. Mild und ungewiss.«
»Wie deine Fälle.«
Er nahm einen Schluck von dem kühlen Wein, der nach den Mineralien im elsässischen Boden schmeckte.
»Wisst ihr schon mehr über den Mord an der Frau?«
»Paula.«
»Ja, wisst ihr mehr?«
»Ich weiß nicht, ob ich was weiß«, antwortete er und erzählte von den vergangenen Tagen. »Meine Dienstbefreiung ist durch«, sagte er dann. »Der Chef vom Landeskriminalamt hatte keine Einwände.«
17
Sie lagen im Bett und lauschten auf die Geräusche der Nacht. Es gab nicht viele. Keine Sirenen, kaum Motorenlärm. Winter schaute auf die Uhr, bald würde es dämmern. Draußen hatte der Wind zugenommen, die Temperatur war gesunken. Es zog vom halb offenen Fenster. Er stand auf und schloss es. Der Wind zerrte am Geäst der Bäume rund um den Vasaplatsen. Selbst in der Dunkelheit sah er das Laub fallen. Er versuchte zu erkennen, ob jemand auf dem Balkon gegenüber stand und rauchte, aber da war keine Glut. Er ging zurück zum Bett und fühlte die Wärme des Holzfußbodens. Das war einer der Gründe, in der Wohnung zu bleiben. Die Kinder konnten auf diesem Fußboden spielen, ohne Gefahr zu laufen, sich zu erkälten. Eine Fußbodenheizung in einem neuen Fußboden war nicht dasselbe, und diese Qualität von Holzdielen gab es nicht mehr.
»Bald wird es hell«, sagte Angela.
»Das dauert noch ein paar Stunden.«
»Ich kann nicht einschlafen.«
»Warum nicht?«
»In meinem Kopf dreht sich alles.«
»Möchtest du ein Glas Wasser?«
»Ja, bitte.«
Er stand wieder auf und nahm ein Glas vom Bord in der Küche. Vom Hof drangen bekannte Laute herauf. Das war der Zeitungsbote. In drei Minuten würde die Zeitung im Flur aufschlagen. Angela würde sie vielleicht sofort lesen wollen, Lokalnachrichten ohne einen Tag Verspätung.
Winter vermutete, dass der Mord an Paula kaum noch eine Notiz wert war. Es geschah zu wenig. Jedenfalls für die Journalisten. Gleichzeitig hatten einige begriffen, dass es um so mehr herauszubekommen galt, je weniger die Fahndungsleitung herausließ. Insofern war das Schweigen vielsagend. Aber in diesem Fall sprach es eine andere Sprache. Das Schweigen um Paula. Es war ein Schweigen, an das er nicht herankam. Eine Art Schweigen, dem er noch nie begegnet war. Es war wie eine Kulisse, von der man weiß, es verbirgt sich etwas Unerhörtes dahinter. Man konnte das Schweigen sehen, es greifen, aber es war nicht wirklich da. Es schien mit all dem anderen zusammenzuhängen, alle Details schienen jedes für sich real zu sein, aber zusammen waren sie nicht greifbar. Es war, als würde man die Anweisungen zu einem Traum lesen. Es gibt sie nicht. Es kann sie niemals geben.
Er kehrte mit dem Glas Wasser zurück.
»Danke.«
»Warum sind alle so still?« Er setzte sich auf die Bettkante.
»Wie meinst du das? Hier?«
»Paula, alle um Paula. Es ist so still.«
»Du hattest doch ein Gespräch mit ihrem Vater. Hat er sich nicht ein wenig geöffnet?«
»Ich weiß es tatsächlich nicht. Ich weiß nicht, was er wollte.«
»Deine Arbeit tut dir nicht gut, Erik. Du vermutest etwas hinter allem, was sie sagen.«
»Tja …«
»Du denkst, alle lügen oder versuchen die Wahrheit zu verbergen.«
»Ist das nicht dasselbe?«
»Du verstehst, was ich meine. Und dann, wenn jemand die Wahrheit sagen will oder sich … nun ja, vielleicht nur ein wenig entlasten will, dann glaubst du ihm auch nicht.«
»Der Kriminalkommissar als Psychotherapeut.«
»Jetzt fängst du an zu begreifen«, sagte sie, und ein Lächeln blitzte in der Dunkelheit des Schlafzimmers auf.
»Das habe ich schon lange verstanden. Ich lade sie doch regelrecht dazu ein.«
»Ich weiß, Erik. Aber versuch es häufiger so zu sehen. Nicht alle lügen.«
»Jemand lügt, bis das Gegenteil bewiesen ist«, sagte
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