Zirkus zur dreizehnten Stunde
sie schon zu verlieren, nach allem, was ihr passiert war?
Trotzdem blieb sie unsicher. Es fiel ihr immer noch schwer, sich in der Realität wiederzufinden, in die sie der Tod ihres Geliebten so grausam gerissen hatte. Sie drehte sich noch einmal zu Antigone um, die ihr aufmunternd zuzulächeln versuchte.
Stoffbahnen versperrten ihr schließlich die Sicht. Lillian drehte sich um und nahm das Lager in Augenschein. Überall waren unterschiedliche Stoffballen, in allen nur erdenklichen Farben und Arten, aufgetürmt. Es gab dicke wollene Stoffe und dünne, leicht fallende, die wirkten, als wären sie nur ein Hauch. In einer Ecken häuften sich Leder in den unterschiedlichsten Farben. Wohin sie auch sah, wurde sie von der Menge dieser vielfältigen Tucharten förmlich erschlagen.
„Willkommen in meinem Lager.“ Mischka strahlte sie an.
Langsam ging Lillian einige Schritte vor und streckte die Hände nach den wunderbaren Materialien aus. Im letzten Moment zuckte sie zurück und sah zur Schneiderin.
„Nur zu, schau dich um und such dir einen Stoff aus, der dir gefällt. Ich werde dir dann daraus etwas Schönes nähen.“ Die Frau lächelte freundlich, wandte sich zu einer der vielen Truhen, und kramte darin herum. „Oder hast du schon bestimmte Vorstellungen?“
„Nein.“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf und sah sich weiter um. Die Stoffe waren weich und leicht. Noch nie hatte sie eine solche Qualität gesehen, nicht einmal in den großen Herrscherhäusern. Es war unglaublich, welche Vielfalt hier lagerte.
Ein roter Stoff gewann schließlich ihre Aufmerksamkeit. Sanft wie das Wasser schien er sich jeder Bewegung anzupassen und umschmeichelte ihre Haut.
„Ah, eine sehr gute Wahl.“ Mischka war hinter sie getreten und sah ihr über die Schulter. „Der passt hervorragend zu deiner Haarfarbe.“
„Ich bin … mir nicht sicher“, stotterte Lillian und ließ den Stoff aus ihren Händen gleiten.
„Ach was!“ Mischka nahm den Ballen und fischte zugleich nach demselben Tuch in weiß. „Antigone sagte, du wärst eine Fuchsfrau. Stoff und Farben passen daher hervorragend. Warte es nur ab.“ Die Schneiderin lächelte und ein Leuchten stand in ihren Augen.
Der Stoff war wirklich sehr angenehm. Aber ein seltsames Gefühl blieb bei der ganzen Sache trotzdem zurück.
Mischka schaffte die Stoffe aus dem Zelt und kam nach Kurzem wieder zurück. Sie ging wieder zu den Truhen und zog ein einfaches Kleid in Weiß hervor, das sie Lillian reichte.
„Ich werde ein wenig brauchen um die neuen Sachen anzufertigen. Bis dahin kannst du das hier tragen“, meinte sie nur.
Lillian breitete das Kleid aus. Es schien selbst hier drinnen das wenige Licht zu reflektieren und wirkte dadurch unbeschreiblich rein. Auch dieser Stoff war sehr leicht.
„Danke“, bedankte sie sich und schälte sich aus ihren alten Fetzen.
„Ich bringe dir etwas Wasser zum Waschen. Du kannst hier drin alles erledigen.“ Mischka verschwand und erschien kurz darauf mit einem großen Eimer dampfenden Wassers. Über ihrem Arm hingen Handtücher. In der Hand hielt sie einen Lappen und duftende Seife.
Lillian nahm alles dankend entgegen. Die Seife schäumte extrem und verbreitete einen sanften, betörenden Duft. Die Säuberung tat ihr gut. Sie war zwar noch immer in ihrer Trauer gefangen, aber es gelang ihr zumindest ein wenig davon mit dem Schmutz, der an ihr klebte, abzuwaschen. Nach all der Zeit, die sie selbst in den kalten und feuchten Nächten in Höhlen geschlafen hatte, wo es recht unbequem war, war das Bad hier eine wahre Wohltat. In der Zeit, während Lillian mit ihrem Geliebten zusammen war, hatte sie sich auch nicht mehr um sich selbst gekümmert. Das war eigentlich sonst nicht ihre Art. Aber sie hatte geglaubt nichts weiter als ihn, seine Liebe, zu brauchen. Nichts als ihn …
Mit einem Schlucken hielt sie inne. Das Wasser tropfte ihr von den Haaren, der Schaum klebte noch an ihren Armen, Beinen und am Bauch. Langsam stieg ein Schluchzen in ihrer Kehle hoch. Tränen fielen in den großen Eimer vor ihr und versetzte die Oberfläche in Unruhe. Sie versuchte, die Tränen zum Versiegen zu bringen, doch sie schaffte es nicht. Stattdessen sah sie nun ihr Spiegelbild, das vom Weinen entstellt, aus dem Eimer zu ihr aufblickte. Einen Moment verfing sie sich darin, streckte vorsichtig die Hand danach aus.
Mit einem wilden Schütteln des Kopfes riss sie sich zusammen. Versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen, die Leiche und den Tod,
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