Zirkus zur dreizehnten Stunde
verschwunden und niemand wusste, wo sie war. Je länger er nach ihr suchen musste, umso mehr wuchs sein Zorn. Ständig war sie da, wenn es darum ging, sich in die Belange anderer einzumischen. Immer hatte sie auf alles und jeden ein Auge. Nur jetzt, wenn er sie zur Rede stellen wollte, jetzt, wo er endlich Antworten wollte, war sie nicht aufzufinden.
Er ging immer wieder durchs Lager, sah in jeden Winkel. Nichts!
Gerade drehte er seine sicher fünfte Runde, als er ein leises Gespräch vernahm. Er hörte unterschiedliche Stimmen, die hinter einem der Zelte erklangen, darunter auch die von Antigone. Er wollte um die Ecke biegen.
„Ich komme schon klar, wirklich“, das war eine ihm unbekannte Stimme. Nun wurde er doch vorsichtiger und schob sich langsamer um die Ecke. Dort standen sie; Antigone und ein neues, unbekanntes Gesicht. Lange rote Haare, ein weißes Kleid und … ein Schwanz? Unter dem Stoff lugte ein Fuchsschwanz hervor und ihren Kopf zierten zwei Fuchsohren. Es war also eine Neue angekommen. Kein Wunder, dass er Antigone nicht hatte finden können.
„Bist du dir sicher? Du bist gerade erst angekommen, du musst dich nicht übernehmen.“ Antigone sah der jungen Frau mit Ernst ins Gesicht.
„Ich brauche wirklich nicht ständig Hilfe. Es ist zwar alles neu, aber ich komme gut allein zurecht.“ Jetzt lächelte die Füchsin, warm und ehrlich. Aramis‘ Blick konnte sich nicht abwenden.
„Sollte es aber Probleme geben, komm zu mir.“ Antigone ergriff die Hände der Frau und sah sie an.
„Ich schaffe das schon“, die Neue nickte leicht. „Es gibt im Zirkus andere, die mehr Hilfe brauchen.“
Ein Seufzen erklang und Antigone gab sich geschlagen.
Aramis hatte nur Augen für die Füchsin. Ihre Gestalt leuchtete. Ihre Haut war so weiß und makellos wie er es noch nie gesehen hatte. Die langen roten Haare hingen in einem dicken Pferdeschwanz weit über ihre Schultern und wirkten im sanften Licht wie Seide. Mit einer leichten Bewegung drehte sie sich um und lief federnd davon. Nach wenigen Schritten entschwand sie einfach aus seinem Blickfeld.
Hinterher!, war der erste Gedanke, der sich in ihm manifestierte. Dann schüttelte er verwirrt den Kopf. Im Moment war etwas anderes wichtig. Antigone blieb zurück und sein Blick saugte sich nun regelrecht an ihr fest. Der Gedanke an den Grund, warum Aramis hier war, schlug wieder mit geballter Faust zu.
Die Anführerin hatte sich umgedreht und war zu ihrem Wagen gegangen. Er sah nur noch wie sie im Inneren verschwand.
Sofort lief er los. Wieder riss er, ohne anzuklopfen die Tür auf und trat ins Innere.
„Antigone!“ die Wut übernahm das Steuer.
„Aramis“, sie saß an ihrem Schreibtisch in der Ecke über einige Zettel gebeugt, ihr Blick war verwirrt, als sie ihn sah, ihre Augenbraue hob sich.
„Wir müssen reden!“, zischte er nur und starrte sie an.
„Hat das nicht Zeit?“ Ein Seufzen kam über ihre Lippen. Sie wirkte erschöpft.
Aramis beschloss ihren Zustand zu ignorieren. Sie hatte ihn zu oft vertröstet, nun wollte er endlich Antworten. Ihre offensichtliche Schwäche würde ihm vielleicht sogar nützlich sein.
„Nein, hat es nicht!“ Seine Stimme war hart.
„Na schön.“ Ihre Kraft schien ein wenig zurück zu kehren. Mit kurzen Schritten ging sie zu einem Abstelltisch und begann sich einen Tee aufzubrühen.
„Also, was ist los, Aramis?“ Sie nahm die Tasse zur Hand und atmete einen Moment den würzigen Duft, der sich auch im Raum verbreitet hatte, ein. Die Verwandlung war perfekt. Mit einem Mal stand sie wieder sicher und ohne Schwäche vor ihm.
Etwas in Aramis knurrte. Wenn sie in guter Verfassung war, würde es wieder um so schwerer werden.
„Ich will es endlich wissen“, begann er und starrte sie an. Angriff! Irgendwie musste er es dieses Mal schaffen.
„Wissen?“, sie wirkte ehrlich verwirrt, legte fragend den Kopf schief.
„Meine Herkunft.“ Seine Hände ballten sich zu Fäusten.
„Warum kannst du das nicht einfach vergessen?“ Antigone lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch, ließ die Schultern ein wenig hängen. „Deine Heimat ist hier, dein Leben, deine Familie, deine Freunde. Warum kümmert dich, wer deine Eltern waren und was genau du bist?“
„Weil mich dieses Wesen zerstört.“ Er ließ eine flache Hand neben ihr auf den Tisch krachen. Warum wollte sie nicht begreifen, in welcher Lage er sich befand? „Etwas ist in mir, etwas, das raus will und das immer mehr Macht über mein Handeln erlangt.
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