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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Band
zurücklaufen und hörte sich die letzte Nachricht noch einmal an. Das war eine brandneue
Drohung; [260]  und weil er sich so fest auf den Inhalt des Anrufs konzentrierte, übersah
er um ein Haar das Wichtigste, nämlich wer der Anrufer war. Farrokh war immer klar
gewesen, daß irgendwann jemand dahinterkommen würde, daß er Inspector Dhar erfunden hatte; dieser
Teil der Nachricht kam nicht unerwartet. Aber warum ging das den echten Polizeibeamten
etwas an? Warum glaubte jemand, daß Kommissar Patel das wissen sollte?
    »Ich weiß, wer Sie
in Wirklichkeit sind, ich weiß, was Sie in Wirklichkeit tun.« Na und? dachte der
Drehbuchautor. »Sagen Sie ihm, wer Sie sind. Sagen Sie ihm, was Sie tun.« Aber warum?
überlegte Farrokh. Dann ertappte er sich eher zufällig dabei, daß er sich wiederholt
den Eingangssatz der Frau anhörte, den Teil, den er beinahe übergangen hätte. »Ist
da der Doktor?« Er spielte ihn sich wieder und wieder vor, bis seine Hände so heftig
zitterten, daß er das Band bis zu Balraj Guptas Aufzählung der Argumente für die
sofortige Freigabe des neuen Inspector-Dhar-Films zurückspulte.
    »Ist da der Doktor?«
    Dr. Daruwalla hatte
noch nie das Gefühl gehabt, daß gleich sein Herz stillstehen würde. Das kann doch
nicht sie sein! dachte er. Aber sie war es – Farrokh war davon überzeugt. Nach so
vielen Jahren – das war doch nicht möglich! Aber natürlich! fiel ihm ein, wenn sie
es war, würde sie es wissen; mit Hilfe einer intelligenten Hypothese konnte sie
darauf gekommen sein.
    In dem Augenblick
stürzte seine Frau ins Schlafzimmer. »Farrokh!« rief sie. »Ich wußte ja gar nicht,
daß du zu Hause bist!«
    Aber ich bin nicht
»zu Hause«, dachte der Doktor. Ich bin in einem ganz und gar fremden Land.
    »Liebchen«, sagte
er leise zu seiner Frau. Wann immer er dieses Kosewort benutzte, wußte Julia, daß
er in zärtlicher Stimmung war – oder in Schwierigkeiten.
    »Was ist los, Liebchen?«
fragte sie ihn. Er streckte ihr die [261]  Hand entgegen, und sie ging zu ihm hin und
setzte sich so dicht neben ihn, daß sie spürte, wie er zitterte. Sie legte die Arme
um ihn.
    »Bitte hör dir das an«, sagte Farrokh zu ihr. »Bitte.«
    Als Julia das erste
Mal zuhörte, sah ihr Farrokh am Gesicht an, daß sie denselben Fehler machte wie
er: Sie konzentrierte sich zu sehr auf den Inhalt der Nachricht.
    »Achte nicht auf
das, was sie sagt«, sagte Dr. Daruwalla. »Überlege, wer es ist.«
    Erst beim drittenmal
sah Farrokh, wie sich Julias Gesichtsausdruck veränderte.
    »Das ist doch nicht sie, oder?« fragte er seine Frau.
    »Diese Frau ist
doch viel älter«, entgegnete Julia rasch.
    »Es ist zwanzig
Jahre her, Julia!« sagte Dr. Daruwalla. »Sie wäre jetzt viel älter! Sie ist jetzt
viel älter!«
    Gemeinsam hörten
sie sich das Ganze noch ein paarmal an. Schließlich sagte Julia: »Ja, ich glaube,
sie ist es, aber was hat sie mit dem zu tun, was hier vor sich geht?«
    Dr. Daruwalla, der
in seinem tristen dunkelblauen Begräbnisanzug, der von dem leuchtendgrünen Papagei
auf der Krawatte aufgepeppt wurde, im kalten Schlafzimmer saß, befürchtete zu wissen,
welche Verbindung da bestand.
    Der Deckenlauf
    Die Vergangenheit
umgab ihn wie Gesichter in einer Menschenmenge. Ein Gesicht war darunter, das er
kannte, aber wem gehörte es? Wie immer bot sich etwas aus dem Great Royal Circus
als Orientierungshilfe an. Der Zirkusdirektor, Pratap Singh, war mit einer reizenden
Frau namens Sumitra verheiratet, die von allen Sumi genannt wurde. Sie war Mitte
Dreißig, vielleicht auch Mitte Vierzig, und spielte nicht nur die Rolle der Mutter [262]  für viele Zirkuskinder, sondern war auch eine talentierte Artistin. Sumi führte,
zusammen mit ihrer Schwägerin Suman, eine Nummer vor, die sich Kunstrad-Doppel nannte.
Suman war Prataps unverheiratete Adoptivschwester. Sie mußte Ende Zwanzig gewesen
sein, vielleicht auch Mitte Dreißig, als Dr. Daruwalla sie das letzte Mal gesehen
hatte – eine zierliche, muskulöse Schönheit, die beste Artistin in Prataps Truppe.
Ihr Name bedeutete ›Rosenblüte‹ – oder war es ›Duft der Rosenblüte‹ oder nur ›Blumenduft‹
ganz allgemein? Farrokh wußte es nicht genau, und er wußte auch nicht, wann Suman
adoptiert worden war und von wem.
    Es spielte auch
keine Rolle. Das Kunstrad-Doppel von Suman und Sumi war sehr beliebt. Die beiden
konnten auf ihren Rädern rückwärts fahren oder sich auf den Sattel legen und mit
den Händen kurbeln; sie konnten

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