Zirkuskind
auf einem Rad fahren, wie auf einem Einrad, oder
treten, während sie auf dem Lenker saßen. Farrokh, der für weibliche Grazie mehr
als empfänglich war, verfolgte hingerissen die anmutige Nummer der zwei hübschen
Frauen. Suman war eindeutig der Star. Ihr Deckenlauf war die beste Nummer des Great
Royal Circus.
Pratap Singh hatte
Suman beigebracht, wie man »an der Decke geht«, nachdem er das im Fernsehen gesehen
hatte. Farrokh vermutete, daß die Nummer ursprünglich aus einem europäischen Zirkus
stammte. (Der Zirkusdirektor konnte der Versuchung nicht widerstehen, alle und jeden
zu dressieren, nicht nur die Löwen.) Er ließ in Sumans Wohnzelt eine leiterähnliche
Vorrichtung anbringen, die sich waagrecht von einem Ende des Zeltdachs bis zum anderen
erstreckte; die Sprossen der Leiter bestanden aus Seilschlingen. Suman hing kopfüber
mit den Füßen in den Schlingen. Sie pendelte vor und zurück, wobei ihr die Schlingen
den Rist aufschürften, und hielt dabei ihre Füße starr im rechten Winkel zu den
Unterschenkeln. Wenn sie den erforderlichen Schwung erreicht hatte, »lief« sie [263] kopfüber
von einem Ende der Leiter bis zum anderen, indem sie beim Vor- und Zurückschwingen
jeweils den hinteren Fuß aus seiner Schlaufe herauszog und in die übernächste steckte.
Wenn sie das unter dem Dach des Wohnzelts trainierte, befand sich ihr Kopf nur wenige
Handbreit über dem Boden. Pratap Singh stand neben ihr, um sie notfalls aufzufangen.
Doch wenn Suman
bei ihrem Deckenlauf die Kuppel des Spielzelts durchquerte, befand sie sich fünfundzwanzig
Meter über dem Boden, weigerte sich aber, mit Netz zu arbeiten. Hätte Pratap Singh
im Notfall versucht, sie aufzufangen, hätten beide das nicht überlebt. Hätte der
Zirkusdirektor abzuschätzen versucht, wo sie auftreffen würde, und sich unter sie
geworfen, hätte er Sumans Sturz vielleicht dämpfen können; in diesem Fall wäre nur
er umgekommen.
Die Leiter hatte
achtzehn Schlaufen. Schweigend zählte das Publikum Sumans Schritte. Aber Suman zählte
ihre Schritte nie; sie behauptete, es sei besser, »einfach zu gehen«. Pratap hatte
ihr geraten, nicht hinunterzusehen. Zwischen der Zeltkuppel und dem weit entfernten
Boden befanden sich nur die kopfstehenden Gesichter des Publikums, die sie anstarrten
– und darauf warteten, daß sie abstürzte.
Genauso war die
Vergangenheit, dachte Dr. Daruwalla – lauter schwingende, kopfstehende Gesichter.
Er wußte, daß es nicht ratsam war, sie anzusehen.
[264] 9
Die zweiten Flitterwochen
Vor seiner Bekehrung verspottet Farrokh
die Gläubigen
Vor zwanzig
Jahren, als es Dr. Daruwalla aufgrund der wehmütigen Sehnsucht seines Gaumens nach
Schweinefleisch nach Goa zog – Schweinefleisch, ansonsten in Indien eine Seltenheit,
ist ein Hauptbestandteil der dortigen Küche –, wurde er mittels der großen Zehe
seines rechten Fußes zum Christentum bekehrt. Er sprach über seine religiöse Bekehrung
mit aufrichtiger Demut. Daß sich der Doktor kurz zuvor die auf wundersame Weise
erhalten gebliebene Mumie des heiligen Franz Xaver angesehen hatte, war nicht der
Grund für seine Bekehrung; bevor Dr. Daruwalla die göttliche Einmischung am eigenen
Leib verspürte, hatte er über die heiligen Reliquien, die in der Basilica de Bom
Jesus in Alt-Goa unter Glas aufbewahrt wurden, sogar gespottet.
Farrokh vermutete,
daß er sich deshalb über die Überreste des Missionars lustig gemacht hatte, weil
es ihm Spaß machte, seine Frau wegen ihrer Religion zu necken; dabei war Julia nie
eine praktizierende Katholikin gewesen und hatte oft erklärt, wie froh sie sei,
das römisch-katholische Brimborium ihrer Kindheit in Wien zurückgelassen zu haben.
Trotzdem hatte Farrokh vor ihrer Hochzeit diverse weitschweifige religiöse Belehrungen
eines Wiener Priesters über sich ergehen lassen. Er hatte das Ganze als religiösen
Alibiakt aufgefaßt, der nur dazu diente, Julias Mutter zufriedenzustellen; allerdings
hatte er – wiederum um Julia zu necken – darauf bestanden, die Zeremonie der Ringsegnung
als »Ringwaschritual« zu bezeichnen, und so getan, als [265] würde er an dieser katholischen
Charade mehr Anstoß nehmen, als dies tatsächlich der Fall war. In Wirklichkeit machte
es ihm Spaß, dem Priester zu erzählen, daß er, obwohl er nicht getauft und nie ein
praktizierender Parse gewesen war, stets an »etwas« geglaubt hatte; dabei hatte
er damals an überhaupt nichts geglaubt. Und er log den Priester und Julias Mutter
seelenruhig
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