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Zirkuskind

Zirkuskind

Titel: Zirkuskind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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pompösesten Erscheinungsformen des Christentums
in Indien zählten. Dr. Daruwalla bewunderte die goanische Architektur, weil ihm
alles Monumentale und Gewaltige gefiel. Exzesse, wie sie sich auch in seinen Eßgewohnheiten
widerspiegelten, fand er prickelnd.
    Die der heiligen
Katharina von Alexandria geweihte SéKathedrale und die Fassade der franziskanischen
Kirche waren ihm lieber als die schlichtere Kirche des Wundertätigen Kreuzes. Doch
seine absolute Vorliebe galt der Basilica de Bom Jesus. Das hatte nichts mit seinem
versnobten Architekturverständnis zu tun, sondern damit, daß er sich königlich über
die Dummheit der Pilger – darunter sogar Hindus! – amüsierte, die in Scharen in
die Basilika strömten, um sich die mumifizierten Überreste des heiligen Franz Xaver
anzusehen.
    Vor allem in nichtchristlichen
Kreisen Indiens wurde gemutmaßt, daß der heilige Franz Xaver nach seinem Tod mehr
zur Christianisierung Goas beigetragen hatte als während der wenigen Monate, die
er als Jesuit dort wirkte. Als er starb, wurde er [268]  auf einer Insel vor der kantonesischen
Küste begraben; doch als man ihn später exhumierte und damit erneut demütigte, stellte
man fest, daß er so gut wie nicht verwest war. Sein auf wunderbare Weise unversehrter
Leichnam wurde wieder nach Goa verschifft, wo seine bemerkenswerten Überreste Scharen
verzückter Pilger herbeilockten. Am liebsten an der ganzen Geschichte mochte Farrokh
die Anekdote mit der Frau, die dem prächtigen Leichnam mit der Inbrunst zutiefst
frommer Menschen eine Zehe abbiß. Franz Xaver sollte noch mehr einbüßen: Der Vatikan
bestand darauf, daß sein rechter Arm nach Rom geschickt wurde; ohne diesen Beweis
wäre die Kanonisierung des heiligen Franz Xaver womöglich nie erfolgt.
    Dr. Daruwalla liebte
diese Geschichte über alles. Gierig betrachtete er die zusammengeschnurrte Reliquie,
die in kostbare Gewänder gehüllt war und einen goldenen, mit Smaragden besetzten
Stab hielt. Der Doktor nahm an, daß der Heilige deshalb in einem erhöhten, giebelüberwölbten
Grabmal unter Glas aufbewahrt wurde, um andere Pilger davon abzuhalten, ihre religiöse
Verehrung durch weiteres inniges Abbeißen zu demonstrieren. Innerlich kichernd,
nach außen hin jedoch voller Ehrerbietung, hatte sich Dr. Daruwalla im Mausoleum
mit verhaltener Heiterkeit umgesehen. Überall an den Wänden, sogar auf dem Sarg,
befanden sich zahlreiche Abbildungen der missionarischen Heldentaten des heiligen
Franz Xaver; aber keines seiner Abenteuer – von dem ihn umgebenden Silber und Kristall,
dem Alabaster, dem Jaspis oder gar dem purpurnen Marmor ganz zu schweigen – beeindruckte
Farrokh so sehr wie die abgebissene Zehe.
    »Also das nenne
ich ein echtes Wunder!« pflegte der Doktor zu sagen. »Wenn ich das gesehen hätte,
hätte das sogar mich zum Christentum bekehrt!«
    Wenn Farrokh weniger
zu Späßen aufgelegt war, bombardierte er Julia mit Geschichten über die Heilige
Inquisition in [269]  Goa, denn der missionarische Eifer, der im Kielwasser der Portugiesen
hier Einzug gehalten hatte, äußerte sich in vielfältiger Form: Bekehrungen wurden
unter der Androhung der Todesstrafe erzwungen – hinduistisches Eigentum konfisziert
und Hindutempel einfach niedergebrannt –, dazu kamen Ketzerverbrennungen und großartig
inszenierte Glaubenstaten. Der alte Lowji wäre begeistert gewesen, seinen Sohn so
respektlos daherreden zu hören. Julia hingegen ärgerte sich, daß Farrokh seinem
Vater in dieser Beziehung so ähnlich war. Sobald jemand, der auch nur ansatzweise
religiös war, kujoniert wurde, reagierte Julia abergläubisch und ablehnend.
    »Ich mache mich
ja auch nicht über deinen mangelnden Glauben lustig«, sagte sie zu ihrem Mann. »Also
mach du mich nicht für die Inquisition verantwortlich, und lach nicht über den armen
Zeh des heiligen Franz Xaver.«
    Der Doktor wird animiert
    Farrokh
und Julia stritten sich selten ernsthaft, neckten sich aber gern. Ihr übertrieben
dramatisches Geplänkel, das sie in der Öffentlichkeit keineswegs unterdrückten,
ließ das Paar in den Augen der üblichen Lauscher – Hotelangestellte, Kellner oder
das triste Paar am Nebentisch, das sich nichts zu sagen hatte – streitsüchtig erscheinen.
Damals, in den sechziger Jahren, als die Daruwallas en famille reisten, kam zu dem üblichen Trubel
noch das backfischhafte, hysterische Getue ihrer Töchter. Deshalb lehnten die Daruwallas,
als sie im Juni 1969 nach Goa fuhren, mehrere Angebote ab, sich

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